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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Die Holzschnitzerei im Berner Oberlande.
Von H. A. Berlepsch (in St. Gallen).

Aus dem lauten, wirren Getriebe der völkerbewegenden Weltindustrie hat sich ein still bescheidenes Naturkind in einen der heimlichsten Winkel des großen, erhabenen Alpengebäudes, an die Ufer des Brienzer Sees geflüchtet; es ist die Berner-Oberländer Holzschnitzerei. Während es drunten im gehügelten Mittellande dampft und braust, surrt und klappert und die Maschinen des Fabrikgebäudes mit dämonischer, geisterhafter Thätigkeit den Dienst der Menschenhand überflüssig machen zu wollen scheinen; – während dort die reichen Geldleute rechnen und speculiren, Briefe hin- und herfliegen, das Steigen und Fallen der Baumwollen- und Rohseiden-Preise Berichte von größter Wichtigkeit, die Ernte-Resultate in fremden Ländern Lebensfragen des schweizerischen Manufactur-Erwerbes geworden sind und die Arbeitskräfte wie todte Nullen betrachtet werden, die erst Werth durch den davorgestellten Zähler des Fabrikanten, Kaufherrn oder Exporteurs bekommen, – hämmert und sägt, schnitzelt und raspelt das stille Bergvölklein der Berner Oberländer daheim in seinen vier Pfählen, unbekümmert um die großen weltbewegenden Handels-Conjuncturen, in naiver Einfalt den Führungen des Genius der Kunst folgend. Die Geschicktesten unter ihnen sind auch die allzeit Gesuchten, und freiherrlich-unabhängig liegt die Größe ihres Verdienstes in ihren eigenen Händen.

Schnitzler-Saal in der Fabrik der Gebrüder Wirth in Brienz.

Die Oberländer Holzschnitzlerei ist ein Erwerb, der aus sich selbst entstanden ist, ein Industriezweig, der, von der Pike auf dienend, durch eigene Kraft sich emporgearbeitet hat zu der Bedeutung, welche er seit kurzer Zeit einzunehmen beginnt. Nicht Einflüsse von Außen schufen, beförderten und hoben diese autodidaktische Volksbeschäftigung, nicht mächtig bewegende Fluktuationen führten als Nothwendigkeits-Folge deren Aufnahme und Cultur herbei (wie z. B. im Gebiete der gewebten Waaren seiner Zeit das siegreiche Emporkommen der fremdländischen Baumwolle, welche den inländisch erzeugten Flachs und die darauf basirte Leinen-Industrie verdrängte), – nicht Momente des Zufalls gaben die Veranlassung oder den ersten leisen Anstoß zur Anhandnahme einer ursprünglich den localen Bedürfnissen und subjektiven Fertigkeiten des Volkes fernliegenden Erwerbsbranche; – der gut ökonomische, echtschweizerische, haushaltende Grundsatz:

„Die Axt im Haus’ erspart den Zimmermann“

(Schiller’s Tell.)

das Selbstständigkeits-Bedürfniß eines Gebirgsvolkes und dessen Unbekanntsein mit dem eindringenden Luxus, welcher heutzutage am Wohlstande des schlichten Bürgers als zehrende Schmarotzerpflanze nagt, – die urthümlich alte, einfache und solide Bauernregel: „Meiner Hände Arbeit ist der Boden meines Wohlstandes,“ war die Basis, auf welcher die Holzschnitzerei zu wachsen, zu blühen und Früchte zu tragen anfing. Schon Jahrhunderte und Jahrhunderte lang war sie von den viehzüchtenden Alpenwirthschaft treibenden Thalbewohnern der Schweiz ausgeübt worden, und nicht über die Grenzen seiner stillen, schönen Heimath hinaus bekannt geworden; die Urväter des Grütli-Bundes hatten sich selbst ihre „Melchkübeli“ und „Nidelkellen“ (Rahmlöffel), ihre „Gepsli“ (Schüsseln) und „Täufeli* (Milchgefäße), ihre Teller, Löffeli und Gabeln aus Holz geschnitzt und hingen in dieser Beziehung bei ihren häuslichen Einrichtungen weit weniger von den eingeführten Eisenschmiedewaaren Steiermarks, Solingens, und Schmalkaldens oder den zerbrechlichen Thonproducten Schwabens und der Eidgenossen im Pruntruter Lande ab, als die Städter.

Bis zu den Zeiten des Sturzes der ersten napoleonischen Herrschaft wurde die Schweiz noch wenig von Fremden bereist; nur Naturforscher und sehr reiche Leute, namentlich Engländer, waren

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 261. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_261.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)