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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Der Proceß Leuthold.
Von Dr. J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)

Zu der fingirten Krankheit der fingirten Tochter des Obersten Kunz trat unterdeß die wirkliche Erkrankung des wirklichen Obersten Kunz, und damit eine neue doppelt ergiebige Bezugsquelle für die Frau Leuthold.

Der Herr Oberst selbst sei krank geworden, kam sie zu dem Weidmann, und mit der Tochter wolle es immer noch nicht besser werden, und auch der Herr Oberst könne nur durch das Geld anderer braver Leute gesund werden, und je mehr gegeben werde, desto bester sei es für den Obersten und den Geber. Und sie erhielt von dem gläubigen Weidmann am 9. Juni 130 Franken, am 11. 600 Franken, am 19. 250, am 25. 250, und am anderen Tage nochmals 250, indem sie ihm schrieb, das Geld sei nicht an sie übergekommen und sie habe gehört, daß es an eine andere Frau Leuthold abgegeben sei, indeß werde der Herr Oberst Alles tausendfach ersetzen. Am 2. Juli mußte er wieder 250 Franken schicken und am 9. 400. Das Geld hatte gewirkt, aber noch nicht völlig, weil es noch nicht genug gewesen sei. Einmal hatte es gar nicht wirken können. Sie hatte mit dem Gelde zugleich einen Vierling Zwetschen gefordert, und Weidmann hatte vergessen, diese mitzuschicken. Weil er sie nicht geschickt habe, sei der Kranke nicht besser geworden, schrieb sie ihm.

Und nun forderte sie auch keine bestimmte Summe mehr. So viele hundert Franken er schicke, schrieb sie ihm das nächste Mal, so viele Jahre könne ihr gemeinsamer Wohlthäter, der Herr Oberst, noch leben. Und Weidmann schickte mit Einem Male 300 Franken und erhielt dafür einen Brief, in welchem es hieß: „O, welche Freude! O, welche entzückende Freude! Aber auch welches Erstaunen! Der Herr Oberst kann jetzt noch 30 Jahre leben! Herzlichen Dank vom Herrn Oberst und der ganzen Familie.“

Freilich mußte er acht Tage nachher wiederum 600 Franken schicken, und sie schrieb ihm dafür (am 19. Juli), sie habe das Geld sofort dem Herrn Obersten gegeben, und sobald er es in die Hände genommen, habe er wieder reden können, und seine ersten Worte seien gewesen: „O Du lieber Weidmann, wie kann ich Dir das je ersetzen?“ dabei seien „ihm die Freudenthränen aus den Augen gelaufen.“

Allein im Anfang August war der Oberst Kunz todt. Alle Zeitungen verkündeten es, alles Volk redete davon. Und die Frau Leuthold schrieb an Weidmann: „Mit weinenden Augen und tiefbetrübtem Herzen melde ich Euch, daß unser Freund und Wohlthäter selig im Herrn entschlafen ist. O, welch’ trauriger Bericht! Unser Wohlthäter ist entschlafen! Wenn Ihr aber noch Etwas thun könnt, so wird er wieder lebendig!“ Es müßten aber wenigstens 600 Franken sein, setzte sie hinzu. Und Weidmann schafft die 600 Franken an – er hatte schon längst bei Verwandten, Freunden und Nachbarn borgen müssen – und sendet sie dem Weibe. Es war aber nicht genug. Nach wenig Tagen schrieb sie ihm wieder, „mit weinenden Augen und betrübtem Herzen“, wie ihr gemeinschaftlicher Wohlthäter feierlich „nach der Ruhestätte geführt sei, Blumen auf seinem Sarge gelegen und in sein Grab gestreut worden, und wie man ihn einbalsamirt“ habe. Aber er werde ihnen wieder geschenkt werden; nur seien 1800 Franken nöthig. Weidmann schickte die 1800 Franken. Am 2. September zeigte sie den Empfang des Geldes an, forderte aber neues, dann werde der Herr Oberst ihnen ganz gewiß bald wieder geschenkt werden. Weidmann hatte nicht gleich geschickt. Am 8. September schrieb sie schon wieder „in großer Trauer, in letzter Nacht wäre unser Wohlthäter uns wieder geschenkt worden,“ wenn – Weidmann das Geld geschickt hätte. Der „Herr Oberst habe nur einen Nervenschlag, aber es werde je später, je böser.“ Tausend Franken müßten wieder da sein, und Weidmann schickte dieselben und erhielt darauf einen Brief von ihr, am nächsten Sonntag Abend neun Uhr sei’s, wo der Wohlthäter ihnen werde wieder geschenkt werden. Die Freunde des Hauses „stehen schon an seinem Grab, um ihn aus der Erde in Empfang zu nehmen.“ Sie würden am Montag Alle zu Weidmann nach Einbrach kommen.

Sie kamen zwar nicht, aber ein Brief traf ein, daß der Oberst wirklich vom Tode erwacht, jedoch noch äußerst schwach sei, und zu seiner völligen Wiederherstellung neuer Gelder bedürfe. Der zum Wahnsinn verblendete Mann schickte sie, und schickte sie bis in den November hinein, täglich den bald völlig wiedergenesenen Obersten Kunz, dessen Erwachen vom Tode das tiefste Geheimniß bleiben müsse, und mit demselben die Erstattung alles von ihm Hergegebenen und die versprochene Belohnung von 70,000 Franken erwartend.

Der Unglückliche wurde endlich selbst wegen Betruges zur Untersuchung gezogen. Er hatte viele Tausende für die Betrügerin zusammenborgen müssen und hatte dabei den wahren Grund nicht angeben dürfen, sondern andere, falsche Vorspiegelungen gemacht. Er konnte nicht zurückzahlen, war so dem Strafgesetze verfallen, und dabei kam erst heraus, wie elendig er betrogen war und noch immer betrogen wurde, und die Gerichte setzten den Betrügereien des schändlichen Weibes ein Ziel.

Das Alles erzählte der unglückliche Mann in der Schwurgerichtssitzung mit großer Fassung, obwohl er mit Frau und fünf Kindern zum Bettler geworden war, und mit voller Offenheit und Wahrheit. „Ob es denn menschenmöglich gewesen sei,“ wurde er gefragt, „solchen unsinnigen Lügen nur ein oder zwei Mal Glauben zu schenken und nur einen Centime darauf hinzugeben, geschweige über ein halbes Jahr lang in siebenundzwanzig verschiedenen Malen sich 14,000 Franken abschwindeln zu lassen?“ „Die Bollers (sein Schwager und seine Schwester) hätten es ja auch geglaubt,“ meinte er, „und der Reichthum des Obersten Kunz sei bekannt gewesen, und an die Freimaurer dachte er auch.“ Was er nicht sagte, wessen er sich wohl nicht einmal bewußt war, das war, daß das Mysteriöse dem Menschen überhaupt so leicht imponirt, und daß die Leidenschaft den Aberglauben weckt, und keine mehr, als die Habsucht.

Die Angeklagte Leuthold hatte während seines ganzen langen Verhörs die Augen nicht aufgeschlagen, keine Bewegung gemacht; auch in dem freundlichen, imbecillen Gesichte ihres Mannes hatte sich kein Zug verändert. Die beiden Betrüger saßen wie taube Menschen da.

Nach Weidmann wurde seine Frau vernommen. Es war eine gewöhnliche, beschränkte Bauersfrau. Aber wie ihr Mann äußerlich ruhig war, so war sie heftig erbittert, ingrimmig. Haß und Wuth kochten in dem Innern der armen Frau gegen die Leuthold, durch die sie so tief elend geworden war, und was in ihr kochte, mußte sie gegen das schlechte Weib aussprudeln und ausstoßen. Fast ein Drittel ihrer Antworten richtete sie nicht an den Fragenden, sondern in Haß und Zorn gegen die Angeklagte. Sie ballte die Fäuste gegen das Weib und verfluchte sie. Das war ihr Recht, und es war Gerechtigkeit, es ihr nicht zu wehren. Sie bestätigte die Aussagen ihres Mannes, sie hatte nicht geglaubt und den Mann gewarnt. So versicherte sie, und sie mochte es jetzt wohl selbst so meinen. Aber sie gestand doch auch, daß sie Angst gehabt habe, daß ihr Mann so viel Geld von dem Obersten, dem Präsidenten der Freimaurer, und eigentlich für nichts, erhalten solle; sie habe gefürchtet, er werde dafür etwas unterschreiben müssen. „Was?“ wurde sie gefragt. „Nun, sich dem Teufel verschreiben!“ Ja, dem Teufel hatte er sich verschrieben, dem Teufel der Habsucht! Die Eheleute Leuthold blieben auch gegen sie taub und blind.

Die Eheleute Boller aus dem Balgrist wurden noch als Zeugen vernommen. Sie bestätigten gleichfalls die Aussagen des Weidmann und zeigten sich als sehr einfältige Leute. Man hätte dennoch, nach den Angaben des Weidmann, zuweilen den Verdacht einer Mitschuld mit der Leuthold gegen sie fassen können, zumal da sie mit dieser dem Weidmann zugeredet, und da die Leuthold während der Betrügereien noch längere Zeit bei ihnen gewohnt hatte. Ein eigenthümlicher Zwischenfall sollte jeden solchen Verdacht vollständig vernichten. In den Schwurgerichtssaal kam die Kunde einer gegen die Eheleute Boller selbst ganz neuerdings verübten und mit der eben verhandelten im genauen Zusammenhange stehenden Betrügerei. Der Betrüger war, wenn ich nicht irre, am Abend vorher verhaftet und an demselben Morgen, während der Schwurgerichtssitzung, bei der städtischen Polizei verhört worden.

Der Präsident des Schwurgerichtes ließ auf die Mittheilung


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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_246.jpg&oldid=- (Version vom 5.10.2021)