Seite:Die Gartenlaube (1860) 227.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

die neugedungene alte Wirthschafterin mit zudringlicher Höflichkeit die Thüre öffnete, traf er Anna in Thränen schwimmend und auf seinem Arbeitstisch ein versiegeltes Päckchen. Es enthielt die Schlüssel, welche Amalien übergeben gewesen waren, ihre Abrechnung bis zum letzten Augenblick und ein kurzes freundliches Abschiedsbillet. Sie traue sich, schrieb sie, die Festigkeit nicht zu, aus dem ihr so liebgewordenen Hause so ruhig zu scheiden, wie es um Anna’s willen nöthig sei; darum habe sie, auf seine Zustimmung zählend, es vorgezogen, dem Abschiede durch eine unvermuthete und etwas frühere Entfernung auszuweichen. Sie zeigte Rudolph an, daß sie auf dem benachbarten Gute einer adeligen Familie eine Stelle als Erzieherin angenommen habe, und schloß mit der Bitte, ihrer in liebender Freundschaft zu gedenken.

Rudolph konnte Amaliens Benehmen nicht mißbilligen; gleichwohl berührte es ihn unangenehm, denn es blieb dadurch so Vieles zwischen ihm und ihr unausgeglichen, was er sich für den Abschied vorgenommen hatte, zu thun. Auch liebte er, durch seinen Beruf an eine streng ordnungsmäßige Abwicklung aller Verhältnisse gewöhnt, derlei rasche und unvermuthete Ereignisse nicht, weil sie sich mehr oder minder störend in seine wohlüberdachten Pläne und Berechnungen drängten. Indessen, es war geschehen; er beruhigte Anna, so gut es gehen wollte, mit dem Versprechen, Amalien besuchen zu dürfen, und ging der Neugestaltung feines Hauses mit entschlossener Zuversicht entgegen.

Je fester aber diese Zuversicht gewesen, desto empfindlicher war die Reihe bitterer Enttäuschungen, die der neue Zustand ihm täglich, ja stündlich bereitete. Er fühlte sich beengt, ja geradezu verletzt durch die Menge und Art peinlicher Kleinigkeiten, die alle ihre Lösung von ihm, der in einer ganz andern Sphäre lebte, erwarteten – deren Nichtbeachtung sich empfindlich rächt, die aber, von der Sorge einer Hausfrau überwacht, gar nicht oder doch nur selten in den Gedankenkreis des Mannes hinüberspielen. Der Unterschied zwischen dem Walten einer liebenden Hausfrau und der eigensüchtigen Thätigkeit einer Miethlingshand war ihm nie so klar und überzeugend entgegen getreten. Während Amaliens Anwesenheit hatte er nichts davon empfunden; auch sie war mit Liebe an ihrer Stelle gestanden.

Unterschleif jeder Art begegnete ihm und widerte ihn unsäglich an, nicht sowohl wegen des Schadens, den er dadurch erlitt, als wegen des gemeinen Sinns, wegen des mißbrauchten Vertrauens, das sich darin kund gab. Bald konnte er sich auch der Wahrnehmung nicht verschließen, daß jene Pünktlichkeit und Sauberkeit des Hauses abnahm, welche, von Theresen geschaffen und von Amalien bewahrt, ein Lebensbedürfniß für ihn geworden war. Mit Grauen sah und bedachte er, welchen Einfluß solcher Umgang und solches Beispiel auf Anna haben müßte, und mußte zweifeln, ob seine angestrengteste Sorgfalt und Liebe auf die Dauer im Stande sein werde, denselben aufzuheben. Zwar hatte er, um während der Zeit, in welcher ihn der Dienst in Anspruch nahm, sein Kind gut aufgehoben zu wissen, dafür gesorgt, daß Anna eine nahe gelegene Erziehungsanstalt besuchte, allein er fühlte täglich schmerzlicher, daß sie dort, wie im Hause selbst, fremden Händen übergeben war. Sein einziger Trost war Anna’s Liebe und Anhänglichkeit an ihn, die sich nun, da sie allein auf ihn angewiesen war, mit jedem Tage steigerte. Sie konnte den Augenblick seiner Heimkehr fast nie erwarten und war dann unzertrennlich von ihm. Aber auch hier war ihm bald die Ueberzeugung unabweislich, daß das Mädchen zur vollen entsprechenden Entwicklung weiblicher Anleitung bedurfte, die auf weiblicher Anschauung und weiblichem Wesen beruht. Am peinlichsten waren ihm die vielen Fragen, mit denen ihn Anna gleich allen lebhaften Kindernaturen bestürmte, und worunter jene wegen Amalien und ihrer dem Kinde unbegreiflichen Entfernung am häufigsten und dringendsten wiederkehrten.

Die Sache erreichte ihren Gipfel, als Anna nicht unbedenklich erkrankte und nun doppelt die Sorge einer liebenden Mutter vermißte, während ihm der Gedanke, sie allein und hülflos daheim lassen zu müssen, geradezu unerträglich wurde.

So war es natürlich, wenn die frühern Gedanken, so ernst sie zurückgewiesen worden waren, unwillkürlich und in immer kürzeren Zwischenräumen wieder auftauchten. Ein über ganz andere Dinge geschriebener Brief Weindlers, der eben während Anna’s Krankheit eintraf, reifte die Entscheidung. In einer Nachschrift hieß es: „Ich habe noch immer nichts über eine Wendung Deiner Familienverhältnisse vernommen, muß also annehmen, daß Du noch nicht die Kraft des Entschlusses in Dir gefunden hast und Alles beim Alten ist. Habe ich ganz in den Wind geredet? Ich meine, das sollte schon um Deines lieben Kindes willen nicht sein!“

Damit hatte er den allerempfindlichsten Punkt getroffen; von ihm aus betrachtet, hatten alle Gründe des kaltblütigen Arztes, die jetzt mit neuer Stärke vor seine Erinnerung traten, ein anderes und zwar ein doppelt überzeugendes Ansehen. Fast jeder Tag legte ein Sandkorn neuer Unannehmlichkeiten in die schwankende Wagschale, bis sie sank. Der Plan einer Scheidung wegen Theresens unheilbarem Wahnsinn ward zum Entschlusse und sollte zur That werden.

Nach einer langen schlummerlosen Nacht trat Rudolph vor den Arbeitstisch, nahm das Uhrkissen mit Theresens Haaren herab und sah es lange mit den heißgewachten ermüdeten Augen an. „Ich werde Dir und Deinem Andenken nicht ungetreu!“ rief er, seine Lippen auf die verblichene Locke drückend. „Ich scheide nicht von Dir! Ich verbinde mich Dir noch inniger, denn es ist Dein geliebtes einziges Kind, Dein Ebenbild, wegen dessen ich den verhängnißvollen Schritt thue! Bleibe stets um mich als segnender Engel, wie Du nicht aufhören wirst, in meinem Herzen zu wohnen!“

Beruhigter hängte er das Kissen wieder an seine Stelle, schloß Anna, die zum Morgengruße hereingehüpft kam, mit innigem Kusse an sich und ging an’s Werk.

Die Zeugnisse der Aerzte über Theresens Unheilbarkeit waren bald in aller Form und vollkommenster Uebereinstimmung erlangt; die nicht zweifelhafte Entscheidung des Gerichts ließ ebenfalls nicht lange auf sich warten, und Rudolph war von seinen Banden befreit, ehe er auf den neuen Zustand noch vollständig sich vorbereitet hatte. Lange und mit eigenthümlich gemischten Empfindungen hielt er das inhaltschwere Blatt in der Hand. Er hatte besorgt, dieser Schritt werde ihn, wenn er gethan sei, wie ein begangenes Unrecht innerlich mit Theresens Andenken entzweien – zu seiner Ueberraschung fand er gerade das Gegentheil in sich. Sie stand ihm immer noch nahe, wie eine theure unglückliche Schwester, für die er in gleicher liebevoller Weise gesorgt haben würde – zugleich aber empfand er mit angenehmem Behagen, daß eine schwere Last ihm abgenommen war. Er war der Welt und sich selbst wiedergegeben.

Dem ersten Schritte folgte naturgemäß der zweite. Rudolph dachte an Wiederverehelichung, und es war wohl begreiflich, daß seine Gedanken sich zunächst auf Amalien richteten. Wohl hatte er flüchtig hier und da die bekannten Kreise überblickt, er fand nichts, was ihn zu fesseln vermocht hätte, und kehrte immer zu ihr zurück. Das Gefühl, das er für Theresen gehabt und noch in sich trug, konnte und wollte er seiner Erwählten nicht mehr entgegen bringen – von Amalien durfte er hoffen, daß sie, mit den Verhältnissen vertraut, sich mit dem freundlichen und herzlichen Wohlwollen begnügen werde, das ihn schon mit der Jugendgespielin vereinigt hatte und das in gleicher Stärke wie in gleicher Dauer unter allen Verhältnissen bewährt geblieben war.

Der inzwischen herangekommene Winter war vorüber; es war wieder Frühling, und Rudolph benutzte den ersten heitern Tag des wieder erwachten Naturlebens, um Anna den längst versprochenen Besuch bei Amalien machen zu lassen. Mit einer der Lehrerinnen, die er darum gebeten, ließ er das entzückte Kind nach dem Landgute fahren, wo sie sich befand, und übergab ihm den Brief, der seine Bewerbung enthielt. Es schien ihm bedeutungsvoll, daß sie ihn aus der Hand des Kindes empfange; dessen Stimme sollte es gleichsam sein, die sie in sein Haus und an seine Seite rief.

Rudolph glaubte an Amaliens Entschluß, so wie er sie kannte, nicht zweifeln zu dürfen; gleichwohl erwartete er mit Bangen den Augenblick, bis Anna Abends zurück kam, und mit ihm selbst befremdlichen Herzklopfen empfing er den Antwortbrief, den sie brachte. Er gewann es über sich, ihn uneröffnet bei Seite zu legen und dem freudig verworrenen Berichte des Kindes zu lauschen, das von den erlebten Herrlichkeiten und von dem Wiedersehen Amaliens nicht genug zu erzählen wußte. Erst als sie, müde von den überwältigenden Eindrücken, vorzeitig eingeschlafen, erbrach er in der Einsamkeit seines Zimmers das entscheidende Siegel.

Er kannte Amaliens Handschrift; der Brief war klar und fest geschrieben – höchstens hier und da verrieth ein minder ruhig geführter Strich, daß die Hand, die ihn führte, etwas gezittert haben mochte. „Sie bieten mir Ihre Hand,“ schrieb sie, „und verhehlen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_227.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)