Seite:Die Gartenlaube (1860) 213.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Napoleon und die Königin Louise.

die spätere Königin sich öfters beklagte, daß der Unterricht ihrer Jugend seinem ganzen Wesen nach mehr ein französischer als ein deutscher gewesen sei. Dieser Vorwurf traf jedoch weniger ihre hochgebildete Großmutter, deren Obhut sie anvertraut war, als den herrschenden Geist der Zeit, der seine Bildung aus Paris bezog. Herrlich aber entwickelte sich Louise an der Seite ihrer Schwestern, die Jean Paul in der Widmung seines Titans folgendermaßen feierte: „Aphrodite, Aglaja, Euphrosyne und Thalia sahen einst in das irdische Helldunkel hernieder und müde des ewig heiteren, aber kalten Olympos sehnten sie sich herein unter die Wolken unserer Erde, wo die Seele mehr liebt, weil sie mehr leidet, wo sie trüber, aber wärmer ist. – – Da beschlossen sie, den Erdenschleier zu nehmen und sich einzukleiden in unsere Gestalt. Sie gingen vom Olympos herab. – – Aber als sie die ersten Blumen der Erde berührten und nur Strahlen und keine Schatten warfen, so hob die ernste Königin der Götter und Menschen, das Schicksal, den Scepter auf und sagte: „Der Unsterbliche wird sterblich auf Erden, und jeder Geist wird ein Mensch!“ Da wurden sie Menschen und Schwestern und nannten sich Louise, Charlotte, Therese, Friederike.“

Kleinere und größere Ausflüge mit der Großmutter führten Louise nach Straßburg, wo sie den erhabenen Münster bestieg, und weiter nach den Niederlanden, deren sie sich später beim Lesen von Schiller’s Geschichte des Abfalls der vereinigten Staaten gern wieder erinnerte. Auch der Kaiserkrönung Franz des Ersten wohnte sie in Frankfurt am Main bei, wo sie mit Goethe’s Mutter bekannt wurde. Die wackere „Frau Rath“ verschaffte dem dreizehnjährigen Fürstenkinde das Vergnügen, sich im Hofe am Brunnen einmal satt zu plumpen und schloß die gestrenge Gouvernante, da diese die Prinzessin durchaus abrufen wollte, gewaltsam auf ihr Zimmer ein. Das vergaß auch Louise nicht und schenkte darum als Königin nach langen Jahren der lieben Frau Rath einen prächtigen, goldenen Schmuck, den sie nur bei außerordentlichen Gelegenheiten anlegte, wie bei dem ersten Zusammentreffen mit der berühmten Frau von Staël. Damals erschien sie, „den bekannten goldenen Schmuck der Königin von Preußen um den Hals geschlungen“, indem sie der Französin mit den erhabenen Worten entgegentrat: „Je suis la mère de Goethe!“

Aus der kleinen, Wasser plumpenden Prinzessin war schon nach wenigen Jahren eine blühende, mit allen Reizen des Körpers

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_213.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)