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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Das Angesicht glättete sich, ein Schimmer von Freude breitete sich darüber und belebte es zu einem ungemein liebenswürdigen Ausdruck. Als das Kind zu ihm gelangt war, hatte er die Papiere zurückgeschoben und beugte sich nun auf die Kleine, die sich zwischen seine Kniee drängte, mit dem Blick unaussprechlicher Liebe herab.

„Was hast Du, meine Anna?“ fragte er. „Laß mich Deinen Fund bewundern!“ Das Kind zeigte eine kleine bunte Muschel, wie sie nur am Meeresstrand vorkommen, und die Ereigniß oder Zufall unter den Kies der Gartenwege gestreut hatte. Der Vater belehrte sie darüber, aber es gelang ihm nicht, die Wißbegierde der Kleinen völlig zu befriedigen, denn sie bestand durchaus darauf, zu erfahren, wie die Muschel, wenn sie im Meere daheim gewesen, bis hierher gekommen sei. Der Vater mußte die Erklärung schuldig bleiben und er that es dadurch, daß er die Aufmerksamkeit des Kindes auf einen andern Gegenstand ablenkte und sie befragte, wie sie den Tag zugebracht habe. Die gesprächige Kleine, an den Beinen des Vaters emporkletternd, ging rasch darauf ein und begann nun eine wohl etwas unklare, demungeachtet aber reizende Erzählung ihrer kleinen Tageserlebnisse.

„Anna ist gutes Kind gewesen,“ sagte sie, „Fräulein Amalie hat es gesagt und hat mich gelobt. Ich habe ihr auch recht sehr geholfen, in der Küche und wie sie Nachmittags am Nähtisch saß. O sie kann mich schon sehr gut gebrauchen, ich kann schon eine Nadel einfädeln und weiß schon, wie man es machen muß, um zu stricken!“

„Das Alles weißt Du, mein kluges Kind?“ erwiderte der Vater mit herzlichem Tone. „Da muß ich Dich allerdings auch loben. Und Du wirst auch so fortfahren? Wirst immer gut und fleißig sein, damit Du mir Freude machst?“

Das Mädchen schlang die Arme um den Hals des Vaters, küßte ihn und schmeichelte. „Anna hat Dich immer lieb – Anna wird Dich nie böse machen – Dich nicht und Fräulein Amalie nicht.“

„Auch die nicht?“ fragte der Vater. „Du bist ihr also sehr gewogen?“

„Ich habe sie fast so lieb wie Dich,“ erwiderte das Kind, „und sie hat mich auch lieb und sagt es mir alle Tage.“

Des Vaters Auge glänzte, als ob es feucht geworden. „Es ist mir lieb, das zu hören,“ sagte er, halb zu dem Kinde, halb vor sich hin. „Und doch – sage mir Anna, hast Du gar keine Erinnerung mehr an Deine Mutter?“

Das Kind wendete das reizende Köpfchen rasch und befremdet nach dem Vater, schwieg einen Augenblick wie nachdenklich, schüttelte dann und sagte: „Hab’ ich denn eine Mutter gehabt?“

Die schon wach gerufene Rührung des Mannes wurde durch die Rede des Kindes so sehr gesteigert, daß er die Thränen nicht zurückzuhalten vermochte. „Ja wohl,“ rief er mit unterdrückter Stimme, „Du hast eine gute, edle, vortreffliche Mutter! Wenn Du größer bist, werde ich Dir viel von ihr erzählen, und Du wirst Dein Leben lang glücklich sein, wenn Du Dich bestrebst, ihr zu gleichen.“

„Und wo ist meine Mutter?“ fragte das Kind. „Warum ist sie nicht bei uns? Ist sie gestorben?“

„Nein,“ antwortete der Vater, immer stärker erschüttert, „– aber krank, sehr krank!“

„Warum ist sie dann nicht bei uns?“ fragte das Kind neugierig wieder. „Laß sie kommen, wir wollen sie alle lieb haben und warten, ich und Du und Fräulein Amalie …“

„Das wird vielleicht noch geschehen,“ antwortete der Vater. „Es ist meine sehnlichste Hoffnung – aber ihre Krankheit ist leider von der Art, daß sie bei uns nicht sein kann. Frage nicht weiter, Dir würdest es doch nicht verstehen – und ich will Dein junges Gemüth nicht mit den Schrecken belasten, die in der Sache liegen und die Du noch früh genug erfährst!“

Das Gespräch wurde durch das Herannahen einer Dame unterbrochen, welche, aus dem Hause kommend, der Laube zuschritt. Es war eine hohe, feine Gestalt von angenehm gerundeten Umrissen und mit anmuthiger Bewegung. Das Gesicht, eben nicht schön, war regelmäßig, und wenn sich auch in den Zügen einige Schärfe ausprägte, that dies ihrem Ausdrucke keinen Schaden; vielmehr gewann sie dadurch ein bestimmtes und entschlossenes Wesen, das Vertrauen erregte. Sie war schlicht, aber mit Wahl gekleidet, hatte über dem einfachen Kattunkleid eine ziemlich grobe Schürze vorgebunden, an der ein Schlüsselbund klapperte, und gewährte so einen vollkommen wirthlichen Anblick, welchem das beinahe frauenhafte Häubchen auf dem dunklen Haare nicht widersprach.

Mit höflichem Gruße trat sie der Laube näher. „Guten Abend, Herr Assessor,“ sagte sie. „Hat der kleine Wildfang Sie wieder in Ihren Arbeiten gestört? Ich komme zu hören, ob Sie das Abendessen hier einnehmen wollen oder droben in der Stube?“

„Es dürfte doch zu kühl werden im Garten,“ antwortete der Assessor. „Die Kleine hat mich übrigens nicht gestört, sondern sehr lieblich unterhalten. Mischte sich auch der unvermeidliche herbe Tropfen darein, so machte mich ihr Geplauder doch auf Secunden lang meine Sorge und mein Kopfleiden vergessen, das sich heute wieder recht fühlbar angemeldet hat. Anna erzählte mir, wie Sie den heutigen Tag miteinander zugebracht haben, und gibt mir dadurch erwünschten Anlaß, Ihnen für die Liebe zu danken, mit der Sie Anna behandeln und in meinem Hause walten.“

Das Fräulein erröthete. „Das ist nicht mehr als meine Pflicht,“ erwiderte sie dann. „War Ihre Gattin nicht meine beste, meine einzige Freundin – ich darf wohl sagen, die Hälfte meines Lebens und meiner Jugend? Was konnte ich nach dem entsetzlichen Unglück, das Theresen betroffen, wohl Besseres thun, als mich ihres verwaisten Kindes und deshalb auch Ihres einsamen Hauses anzunehmen? Ich bin allein auf der Welt; ich habe keine verwandtschaftlichen Beziehungen – ein ähnliches Verhältniß des Dienens wäre überall mein Loos gewesen; ich muß also dem Himmel danken, daß er es mir in Ihrem Hause so freundlich gestaltet hat.“

„Das höre ich mit großem Vergnügen,“ antwortete der Assessor, „und ich kann nur den Wunsch hinzufügen, daß Sie diese Zufriedenheit immer bewahren und mich nie verlassen mögen!“

„An meiner Zufriedenheit wird es nicht fehlen,“ entgegnete Amalie, „aber ob ich Ihr Haus nicht doch verlassen muß, kann ich nicht bestimmen. Ich glaube vielmehr und fürchte, daß es bald geschehen wird und daß ich nicht die Macht habe es zu hindern.“

„Sie erschrecken mich und werfen mir auf einmal einen höchst betrübenden Schatten auf die Zukunft! Wenn Sie selbst zufrieden sind, was könnte Sie aus meinem Hause verscheuchen? Was könnte Sie hindern, das Freundschafts-Opfer, das Sie Theresen gebracht, zu vollenden?“

Das Fräulein schwieg und sah sinnend zu Boden. „Innere Verhältnisse,“ fuhr sie dann fort, „werden mich nicht zwingen, aber der Zwang dürfte wohl von außen kommen. Es ist übrigens gut, daß wir darauf kommen: einmal mußte es doch erörtert werden, und so will ich Ihnen denn sagen, was mir schon lange drückend auf dem Herzen gelegen.“

„Reden Sie.“

„Bezeugen Sie mir erst,“ begann Amalie, „daß ich mich in Ihrem Hause gegen Sie und jede Umgebung genau in den Schranken betragen habe, die meine Stellung mir vorgezeichnet.“

„Immer!“ war die Antwort. „Niemand kann Ihnen auch nur den leisesten Vorwurf des Gegentheils machen! Wohl aber haben Sie mehr gethan – Sie sind meiner Anna in Wahrheit eine zweite Mutter!“

„Ich danke Ihnen für dieses ehrende Urtheil: leider ist es nicht das der Welt, nicht das der Nachbarschaft. Erfahren Sie denn, so peinlich mir diese Mittheilung ist, daß das Gerücht von persönlichen Beziehungen wissen will, in denen ich zu Ihnen stehen soll ...“

„Wirklich? Solche Verleumdung wagt man auszustreuen?“ fuhr der Assessor auf. „Aber sie ist zu boshaft, um geglaubt zu werden! die Absichtlichkeit und Erdichtung liegt auf der Hand, denn weder ich noch Sie haben Anlaß zu dem Gerede gegeben!“

„Gewiß – aber das hindert böse Zungen nicht; sie messen Andere nach ihren eigenen Maßen. Es ist klar, daß etwas geschehen muß, diese Verdächtigung Lügen zu strafen – ich muß Ihr Haus verlassen!“

„Das kann nicht Ihr Ernst sein,“ rief der Assessor sich erhebend, „Anna kann Sie nicht missen, ich kann es ebenso wenig! Den größten Theil des Tages in meinen Beruf gezwängt, muß ich Kind und Haus lediglich Ihnen überlassen – was würde daraus, wenn Anna Ihre liebevolle Erziehung, wenn ich Ihre Klugheit, Ihre unersetzliche Umsicht verlieren müßte?“

„Sie sind zu gütig,“ entgegnete Amalie, „allein gegen die Nothwendigkeit läßt sich nicht ankämpfen. Heute Nachmittag erfuhr

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