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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

hatte, Wegen ihrer Gegensätze und ihrer Gleichheit näher beleuchten.“ – Wir erzählen sie in etwas kürzerer Form.

Mary B. lag zum Tode verurtheilt wegen Vergiftung ihrer eigenen Schwester, für deren Gatten sie in dämonischer Leidenschaft brannte, obgleich sie kaum den Mädchenjahren entwachsen war. Als ich sie zuerst besuchte, hatte sie noch ziemlich eine Woche zu leben. Sie erzählte mir, daß sie mit einem Bleistift auf einem Stückchen Papier ausgerechnet, wie viele Minuten dies seien. Ich sprach ihr lange und eifrig zu. Als ich sie verließ, kreischte sie mit einem Schauder: „Hundert und zwanzig von den Minuten verloren!“ Ihre Wärterin erzählte mir, daß sie bei jedem Schlage der Gefängnißuhr laut aufgeschrieen[1] und jeden Morgen nach dem Erwachen eifrig nach der Zeit gefragt habe, um zu heulen und zu brüllen, wenn es später war, als sie erwartet. Die Minuten und Stunden in einer engen Zelle mit dem kleinen Fensterchen an der Decke in furchtbarster Qual zugebracht beweinte sie mit leidenschaftlichstem Schmerze und schrie oft: „O könnt’ ich diese Stunden zurückrufen!“ Vierundzwanzig Stunden vor ihrem Ende suchte sie dies Ende gewaltsam durch Selbstmord zu meiden; aber ich erfuhr nachher, daß sie diesen Versuch in der Gewißheit der Vereitelung gemacht, um dadurch vielleicht Mitleid zu erregen. Die Wärterin, ich, der Inspector, der Gouverneur, alle wurden mit wahnsinniger Wuth bittender Verzweiflung angefallen, daß wir Gnade, Aufschub vermitteln sollten. Einige Male schien sie mir reuig, andächtig, zerknirscht zuzuhören und verrieth dann den wirklichen Beweggrund, indem sie mich beim Weggehen umklammerte: „Nicht wahr, Sie sagen, daß ich nun reuig bin und von nun an ein sündenloses Leben führen werde?“

Jeder, der etwas Erfahrung in diesem Gebiete hat, weiß, wie thöricht die Behauptung ist, daß Zuchthaus oder Strafarbeit oder sonst ausgesuchte Pein für’s ganze Leben keine große Gnade für den zum Tode verurtheilten Verbrecher sein könne. Männliche fürchten ihn ebenso, wie weibliche Verbrecher. Letztere scheinen sogar oft gefaßter, weil man die schneller eintretende Abspannung, den daraus folgenden Stumpfsinn für Ergebenheit etc. ausgibt. Mary B., jung und ungemein kräftig, kam nicht zur Wohlthat dieses Stumpfsinns. Sie schrie und jammerte immer von Rettung und der gnädigen Königin. Wenn sie’s nur wüßte, wenn nur Jemand einen Augenblick ihre Qualen fühlte, könnte, dürfte sie nicht sterben! So oft sich ihre Zellenthür öffnete, sprang sie auf und spannte mit hoffnungsvollem Eifer Augen und Ohren für das Wort der Gnade. Ein ander Mal fragte sie wieder nach den geringsten Details, wie „es“ gemacht würde, wo „es“ geschehen sollte. Nie nannte sie die Vollstreckung ihres Urtheils anders als „es“. Sie erzählte oft von ihren Träumen, von Tagen, Scenen, Spielen ihrer Kindheit und Unschuld und brach dann in die entsetzlichen Krämpfe unsäglicher Qualen aus. Die Nacht vor ihrem Tode brachte sie hinter den Eisenbarren ihrer Zelle zu, Abschied nehmend vor den Sternen und der Welt voller Schönheit. Aber vom Schaffot blickte sie immer zurück nach dem Gefängnisse, von wo allein die Gnadenbotschaft kommen konnte. Ihr Gesicht ward endlich verhüllt, ihr gedämpfter Schrei erstickt von der – Fallthür.

Robert S., wegen Einbruchs und Mord zum Galgen verurtheilt, schien sein Schicksal mit Ruhe zu erwarten und auf keine Gnade zu hoffen. Ich fand ihn stets achtungsvoll und ohne Klage. Er war in allen religiösen Dingen fabelhaft unwissend, aber keiner der stupiden Idioten, wie die Meisten seiner Art, sondern zeigte löblichen Eifer, sich belehren, sich trösten, sich für den Himmel vorbereiten zu lassen. Nur bekümmerte es ihn, daß er nichts für die hinterbleibenden Seinen thun könne. Endlich glaubte er ein Mittel gefunden zu haben. Er bekam Erlaubniß, einen Anatomen, der gern Leichname kaufte, zu sprechen und sich ihm zu verkaufen. Der Anatom kam am Abende vor der Urtheilsvollstreckung und unterhandelte mit dem Verurtheilten. Da der „Leib“ meine Sache nicht war, bekümmerte ich mich weiter nicht darum, hörte aber unwillkürlich, daß der Doctor und Anatom den ihm gebotenen „Artikel“ ganz abgelehnt, gar nichts darauf geboten habe. Am nächsten Morgen wurde Robert S. vor dem Gefängnisse gehenkt und begraben. Ich hatte ihn bis zum letzten Augenblicke begleitet, getröstet und ruhig, gefaßt, männlich gefunden und nie bemerkt, daß er Hoffnung auf Milderung oder Gnade gehegt habe. Und doch hatte ich mich auch in diesem Falle täuschen lassen.

Als ich den Anatomen einige Wochen später in Gesellschaft traf, sagte er mir die Gründe, weshalb er den sonst kostbaren Robert S. nicht gekauft habe. „Die Sache ist,“ sagte er, „daß ich den Leichnam dieses Burschen schon früher gekauft hatte, er mir aber betrügerisch davon gelaufen war. Er wurde schon vor zwei Jahren einmal gehenkt und mir als Leichnam in’s Haus geliefert. Des Nachts erschreckt er meine Frau beinahe zum Tode, als er wieder zu sich gekommen und aufgestanden war. Da ich kein Henker, sondern Arzt bin, curirte ich den stiernackigen Kerl und entließ ihn nach vierzehn Tagen ganz wohl. Er versprach mir die zehn Pfund, die ich für ihn an seine Frau gezahlt, redlich wieder zu geben. Aber er hielt nicht nur nicht Wort, sondern bringt sich auch zum zweiten Male in die Schlinge – ein köstliches Beispiel für die „Abschreckungstheorie“. Ich wollte ihn nicht zum zweiten Male bezahlen. Ich hab’ ihn doch gekriegt und auch gefunden, weshalb er, wie Sie sagen, so gefaßt war. Er hatte sich diesmal nicht auf den Zufall verlassen, der ihm das vorige Mal vermöge einer ausbleibenden Verengung des Strickknotens das Leben gerettet, sondern sich mit einer silbernen Röhre versehen. – Sie sehen, wie er, einmal gehenkt, sich für den Henker bestimmt glaubte. Man sollte Verbrecher-Typen zu curiren suchen, aber nicht warten, bis sich ihre Mißbildungen entwickelt haben. – Solche Silberröhren hab’ ich schon in manchem Halse gefunden. Es ist bekannt, daß die schweren Verbrecher von Profession hartnäckig an den Nutzen dieser Röhren glauben, obgleich nie eine geholfen hat. nie helfen kann. Nachdem ich abgelehnt, hatte er mit dem Wärter verhandelt, der ihn ausgraben sollte. Der Wärter that es, und ich bekam ihn für einen civilen Preis.“

So lag selbst in diesem einzigen Falle, wo der Gefängnißgeistliche Fassung und Todesmuth gefunden zu haben glaubte, die geheime Hoffnung, mit dem Leben davon zu kommen, zu Grunde. – Der Verbrecher ist des Staates eigenstes Verbrechen, und ein doppeltes, wenn er zuletzt noch angeblich zum Wohle desselben umgebracht wird.




Blätter und Blüthen.

„Was ist des Deutschen Vaterland?“ in London. Am 21. Februar Abends 8 Uhr traten in einem brillant erleuchteten, von Damen in voller Balltoilette und Herren mit schneeweißen Handschuhen reichlich gefüllten Saale den Westendes 38 stattliche deutsche Männer und Jünglinge, größtentheils charakteristische Köpfe und ausdrucksvolle, bärtige Physiognomien, in einem Halbkreise auf und fragten plötzlich mit vollem kräftigen Chor in das gemischte englisch-deutsche Publicum hinein:
  „Was ist des Deutschen Vaterland?“
Zufällig, aber doch just 38 deutsche Mitglieder des Islington-Gesangvereins – auf jeden deutschen Staat zu Hause Einer – fragten es und wiederholten die Frage immer zorniger und leidenschaftlicher, bis sie endlich in einem charakteristischen Piano die bekannte richtige Antwort gaben und dann stürmisch, schmetternd, zornig befehlend, kategorisch fordernd, in triumphirender Fuge wiederholend sich darin einigten: „Das soll es sein! Ja, das soll es sein!“ Wir wußten’s längst. Nachdem es der alte Arndt in großer, bewegter Zeit vor einem halben Jahrhundert zum ersten Male in aufflammendem patriotischen Zorne in’s deutsche Volk hineingefragt, haben wir’s zu unserer Nationalhymne, zu unserer Einheits-Standarte erhoben und immer gesungen, sobald uns das Herz für Deutschlands Ehre und Einheit schlug. Der alte Arndt ist neunzig Jahre alt geworden und hat es doch nicht erlebt, was er und seitdem Millionen mit ihm wohl millionenmal als unerläßlich und gar nicht mehr fraglich als Grundbedingung deutscher Einheit und Ehre forderten. Aber über seinem Grabe lebt es und klingt es hinaus, so weit die deutsche Zunge klingt, so weit man deutsche Lieder singt: in aller Herren Ländern, unter allen Längen- und Breitengraden regt sich und bewegt sich und verkörpert sich die alte Arndt’sche Forderung der Deutschen, die von einem andern Dichter, dem größten, universalsten, deutschesten, kosmopolitischen Schiller, in aller Welt zu sich gekommen, vereinigt, im deutschen Geiste erhoben und stolz geworden an der Verwirklichung eines einigen Deutschlands arbeiten, das vielleicht die Arndt’schen und des deutschen Volkes Forderungen einst glänzend und weit, weit um die Erde herum übertreffen wird. Die Deutschen, in aller

  1. Horch, die Glocken hallen dumpf zusammen!
    Und der Zeiger hat vollbracht den Lauf!
     (Schiller’s „Kindesmörderin“.)

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_175.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)