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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Zeit, vor 26 Jahren, war Chaux de Fonds erst mit etwa 6000 Menschen bevölkert; seitdem ist die Summe der Einwohner fast auf das Dreifache gestiegen. – Das Land, seine Boden-Erzeugnisse und sein Klima waren keinesweges so einladend, daß Menschenmassen so auffallend hier zusammenströmten. Der Bied, ein Waldwasser, überschwemmte vor einem halben Säculum bei hohem Stande fortwährend den Thalgrund, bis patriotische Männer dasselbe durch einen fast tausend Fuß langen Stollen dem Doubs zuleiteten. Noch heute sammelt man, in Ermangelung guten Quellwassers, die atmosphärischen Niederschläge in Cisternen für den Küchengebrauch, und die mittlere Jahrestemperatur von Locle steigt nicht über +7°-Celsius; – denn die Höhenlage dieses Ortes (2900 Pariser Fuß über dem Meeresspiegel) kommt jener des Inselsberghauses oder der Schmücke auf dem Schneekopf (Thüringer Wald) – und die Lage von La Chaux de Fonds (3100 Pariser Fuß) derjenigen vom Brockenhause oder vom Gipfel des Ochsenkopfs im Fichtelgebirge gleich. Alles keine anlockenden Factoren.

Ein Spiel des Zufalls, eine Fügung des Schicksals, ein Fingerzeig der Vorsehung (nenne es ein Jeder nach seinem Glaubensbekenntniß, wie er will) gab die anscheinend unbedeutende Veranlassung zu der nachmals so großartig sich ausbreitenden Industrie, zu der bedeutenden Volks-Accumulation. Ums Jahr 1679 kam ein Roßhändler nach la Sagne und brachte als neues Weltwunder eine Taschenuhr von London mit. Bis dahin hatte man dort noch nie ein solches Ding gesehen. Da begab sichs, daß die Uhr stehen blieb. Der Eigenthümer, besorgt um sein kostbares Kleinod, vertraute dasselbe einem autodidaktischen Genie, dem vierundzwanzigjährigen Daniel Joh. Richard an, und dieser, von seinen Eltern und Allen als unpraktischer, grübelnder Mensch verhöhnt, vertiefte sich so begeistert in das Studium der hier angewandten Mechanik, daß er, ohne jede positive Vorkenntniß der diesen Constructionen zu Grunde liegenden mathematischen Bedingungen, den kühnen Entschluß faßte, eine gleiche Uhr nachzubilden. Dazu aber fehlten ihm zunächst alle technischen Hülfsmittel. Er versuchte es, sich solche, namentlich eine Divisionsmaschine, in Neuenburg oder Genf zu verschaffen. Aber seine desfallsigen Bemühungen bei Uhrmachern, die ihre Kunst wie ein Geheimniß bewahrten, waren total vergeblich und er mußte also, bevor er an die Ausführung seines Planes denken konnte, erst die Werkzeuge erfinden und selbst fertigen, mittelst deren er seinen Uhrenbau auszuführen gedachte. Muth und Ausdauer überwinden Berge von Schwierigkeiten. Auch Richard wurde ihrer Meister, und sechs Monate später lag eine von seiner Hand gefertigte Uhr zu aller Einwohner Erstaunen pickend und zeigerrückend vor. Alle Bestandtheile, Räder und Getriebe, Feder und Kette, Zifferblatt und Gehäuse, Vergoldung und Decoration war von ihm selbst gefertiget. Die Anerkennung, welche ihm wurde, die Nachfrage der Begüterten nach solchen „Zeitmessern“, die eigene Freude am Gelingen seines Impromptu’s regten ihn an, unter Beihülfe seiner Brüder fernere Uhren zu fertigen, – und so ward er Begründer der jetzt so blühenden jurassischen Uhrmacherei, der Wohlthäter eines ganzen Landes. Die neue Industrie vervollkommnete sich dermaßen, daß Locle 1741 schon 200 bis 300 Uhren mit einfachen Stundenzeigern lieferte, – daß zehn Jahre später Abraham Robert und Daniel Perrelet Maschinen erfanden, mittelst deren die gewöhnlichen mechanischen Arbeiten rascher, präciser und billiger ausgeführt werden konnten, – daß man abermals zehn Jahre später (1760) Repetiruhren construirte etc. Als berühmte Männer in diesem Fache gingen aus den jurassischen Bergen hervor: Ferd. Berthoud von Couvet, Autor einer berühmten Monographie über die Uhrmacherkunst, – sein Neffe, der bekannte Vervollkommner der Schiffsuhren, – Breguet, der famose Uhrmacher in Paris, dessen Geschäft noch heutigen Tages fortbesteht, und dessen Enkel der französischen Telegraphie so wesentliche Dienste leistete, Pierre Jacques Droz und Henri Louis Droz, Verfertiger der schreibenden, zeichnenden und clavierspielenden Automaten, Jean Pierre Droz, der berühmte Stempelschneider und Medailleur in Paris und London etc. etc.

Die Uhrenindustrie wuchs nun in gemessenen Progressionen, sodaß im Jahre 1818 die Ausfuhr derselben aus den Neuenburger Bergen und dem Val de Travers 130,000 Stück betrug, von denen etwa ein Neuntel in goldenen Schalen oder Gehäusen war, und nur 1000 Stück auf Pendel- und Stockuhren kamen. Im Jahre 1854 wurden allein in Locle und La Chaux de Fonds in den Controle-Bureaux 268,000 Stück Uhren gestempelt, von denen 161,000 in silbernen und 107,000 in goldenen Schalen. – Jetzt werden fast ausschließlich nur Taschenuhren im schweizerischen Jura verfertigt. Jene großen Tisch- und Stockuhren (pendules), welche zu einem modernen Luxusartikel des Welthandels sich ausgebildet haben, sind meist Pariser Erzeugnisse. Die nachbarlichen Franzosen gaben sich zu verschiedenen Zeiten die größte Mühe, auch in ihren Bergen die Uhrenfabrikation einzuführen und an dem Gewinn zu participiren, der die Neuchateler binnen einem Jahrhundert in ihrer Wohlhabenheit so sichtbarlich gehoben hatte; Louis Philipp verwandte Millionen auf Durchführung dieser Idee, gewann um hohe Gagen Lehrmeister und machte den Unternehmern bedeutende Capitalvorschüsse. Aber die Erfahrung, welche schon hundertfältig in anderen Gegenden, bei anderen Gelegenheiten gemacht wurde, daß Handel und Gewerbe keine Treibhauspflanzen sind, die man nach Belieben da und dorthin verpflanzen und deren Verkehrsbeziehungen man willkürlich reguliren kann, bewährte sich auch hier. Die französischen Uhrmacher konnten die schweizerische Concurrenz nicht aushalten, und das Project sank mit bedeutenden Verlusten in sich selbst zusammen.

Die Uhrenindustrie ist mit dem schweizerischen Jurassier so innig verwachsen, daß alle Bewohner dieser Bergthäler gleichsam geborene Uhrmacher sind. Sieht man sie arbeiten, so möchte man glauben, es sei ein ganz anders gearteter Menschenschlag, mit viel feiner gestaltetem, sorgsamer ausgebildeten, gebrauchsfähigeren Organismen, der hier mit ungewöhnlicher Leichtigkeit, fast spielend die spitzfindigsten Kunststücke der Kleinmechanik ausführt. Intelligenz, klarer Scharfblick und lächelndes Selbstvertrauen lebt in diesem Volke von frühester Jugend an, wie solche kaum irgendwo in anderen Fabrikdistricten nur in annähernder Weise gefunden werden dürften. Woher kommt das? Einfach daher, daß der jurassische Uhrenmacher nicht gedankenloser Bediener der Maschine geworden ist wie der Spinner, der Zwirner, der Besorger des mechanischen Webstuhles, der Appreturgehülfe etc. etc., sondern daß bei jeder seiner Verrichtungen der Verstand, die Aufmerksamkeit ununterbrochen in Anspruch genommen werden, daß die Beobachtung der difficilsten Verhältnisse Bedingung des Gelingens seiner Arbeit ist. Obwohl er jeden Augenblick genöthigt wird, die Vortheile der Maschinen-Vermittelung zu benutzen, so kommt diese doch nur in so beschränktem Maße und gleichsam als Nebensache in Betracht, daß die leitende Hand, das prüfende, spähende Auge, die exacte Berechnung der subtilen Wirkungen jene kleinen Hülfsleistungen der Mechanik vollständig außer Rechnung bringt. Also diese fast angeborene, intelligente, applicative Fertigkeit ist einer der Factoren, welcher die Verbreitung der Uhrenindustrie par Ordre du Cabinet nicht überall ohne Weiteres zuläßt; es müßte eine Bevölkerung mit Aufwand außerordentlicher Opfer mehrere Generationen hindurch factisch erst dazu erzogen werden.

Aber ferner ist es auch die Eintheilung der Arbeit, die nothwendige Voraussetzung des Vorhandenseins einer außerordentlichen Menge hülfsleistender Hände, welche jedem Concurrenzversuche schwer zu bewältigende Hindernisse in den Weg legen. Unendlich viele bestimmt abgegrenzte Specialfertigkeiten greifen wie die Räder eines Uhrwerkes selbst in den Organismus des großen Geschäftsbetriebes ein und ermöglichen nicht nur überhaupt mit Leichtigkeit und bedeutender Zeitersparniß arbeiten zu können, sondern diese Specialarbeiter sind auch Virtuosen in ihren Fächern und können aus allen den angegebenen Gründen mit geringeren Kosten produciren.

Es gibt keinen anderen Industriezweig, bei welchem die Theilung der Arbeit so weit getrieben wird, als in der Uhrenfabrikation oder eigentlicher „Uhrenmanufactur“. Denn so fabrikmäßig das ganze Geschäft organisirt ist, so außerordentlich viel verschiedene Hände an der Herstellung jedes einzelnen Uhren-Exemplares mitwirken müssen, so wenig verläuft der Betrieb desselben nach dem allgemein adoptirten Begriffe fabrikativ, da 1) weder ein Fabrikherr die Uhr vom rohen Metall an bis zur letzten feinen Politur durch ausschließlich in seinem Dienste stehende Arbeiter fertigen läßt, noch 2) die einzelnen Arbeiten gemeinschaftlich in besonders dazu erbauten und eingerichteten großen Gebäuden und Fabriksälen ausgeführt werden.

Im Gegentheil, der ganze Herstellungsproceß ist eigentlicher „Handwerksbetrieb“ im Großen, – Handwerksbetrieb auf eigene Rechnung und Gefahr jedes einzelnen mitwirkenden Darstellers irgend eines Uhrentheiles. Nur die Ebauches, d. h. die ersten grobformenden

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_166.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)