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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

der mich zum sofortigen Aufbruch zwang. Onkel Hersenbrook war gefährlich erkrankt und verlangte so dringend mich zu sehen, daß der Arzt befohlen hatte, mich davon in Kenntniß zu setzen. Kaum eine Stunde nach Empfang des Briefes stand ich reisefertig der Tante Ernestine gegenüber. Sie war mit meinem raschen Entschlusse zufrieden, und als ich ihr zum Abschied die Hand geküßt hatte, hielt sie die meinige fest und sah mir eine Weile forschend in die Augen.

„Dein nächster Besuch in Guntershausen wird zu Werners Hochzeitsfeier sein,“ sagte sie. „Diese Hochzeit wird gefeiert, verlaß Dich darauf! Was mir Anna geklagt hat und was Du gesehen hast – Isidore hat es mir selbst mit tausend Thränen erzählt – sind lauter Kindereien, die nicht mehr vorkommen sollen. Uebrigens wünsche ich nicht, daß Werner etwas davon erfährt,“ fuhr sie fort. „Er hat genug Sorge und Mühe um Guntershausen, laßt ihm sein Herzensglück ungetrübt.“

„Ich verbeugte mich zustimmend und wurde in Gnaden entlassen. Nun noch ein flüchtiger Abschied von den Schwestern, von Hardorf und Isidore, dann führte mich Werner an den Wagen hinunter – noch einmal schüttelten wir uns die Hand. Wer hätte mir damals gesagt, daß es zum letzten Male war! Dann fuhr ich mit sehnsüchtiger Ungeduld der Heimath meines Herzens zu – und als ich zwei Tage später wieder bei Dir war, meine Eva, Deine kleine warme Hand in der meinigen hielt und Dir in die treuen, jetzt so wehmüthigen Augen sah, war jeder Zweifel am eignen Herzen verschwunden, jeder böse Zauber besiegt.

„Von den schweren Zeiten, die wir damals am Krankenbette Deines Vaters verlebten, brauche ich Dir nichts zu sagen. Alle die angstvollen Tage und Nächte werden Dir so gegenwärtig sein wie mir – und dann die lange Reconvaleseenz, die mit den ersten Wochen der Frühlingslüfte begann und sich bis tief in den Sommer hineinzog, und dann die traurige Ueberzeugung, daß auf vollständige Genesung noch lange nicht, vielleicht nie mehr zu hoffen wäre. Im Juli war’s, als der Arzt die Bäder von Nizza empfahl, im August mußten wir uns trennen. Wie schwer es mir wurde, hast Du wohl nicht geahnt – aber vielleicht hast Du Aehnliches empfunden. Hätten wir uns damals nicht so gut zu beherrschen gewußt, es wäre wohl Manches anders geworden.

„Ende September sollte Werners Hochzeit sein. Zu Anfang des Monats ging er in die Hauptstadt, um einige Geschäfte zu ordnen, und acht Tage später erhielt ich die Nachricht seines Todes. Er war im Duell gefallen – sein Mörder war Rieth!

„Ich eilte in die Hauptstadt; von Schmerz und Rachedurst getrieben. Rieth war entflohen. Niemand wußte wohin. Ueberhaupt war er seinen frühern „Freunden“ seit längerer Zeit aus den Augen verschwunden, und als ich mich – immer in der Hoffnung seine Zufluchtsstätte zu ermitteln – näher nach ihm erkundigte, erfuhr ich, daß er sich gleich nach seinem Besuch in Guntershausen vor dem Ungestüm seiner Gläubiger in irgend welche Verborgenheit zurückgezogen hatte. Seine Existenzmittel schienen von jeher sehr problematischer Natur gewesen zu sein. Das Spiel, sagten Einige – Andere flüsterten den Namen einer alten, reichen, sehr koketten Präsidentin – der ehemalige Hauswirth des Freiherrn erlaubte sich sogar von Schwindeleien zu sprechen. Und diesen verlornen Menschen hatte der wackere Hardorf ohne Bedenken in unser Haus, in unsern Familienkreis eingeführt. Wochenlang hatten meine Schwestern mit ihm unter einem Dache gelebt – Werner, der edle, ehrenhafte Werner hatte geglaubt, die Beleidigungen dieses Elenden mit dem eigenen Blute abwaschen zu müssen; ich selber hätte sicherlich dasselbe gethan, wenn es mir damals gelungen wäre ihn aufzufinden – und das Alles nur, weil der Mensch zufällig einen Namen von gutem Klange führte, und weil wir in unserer geselligen Trägheit solchen Namen als Gewähr der Sitte und Gesinnung seines Trägers hinzunehmen pflegen.

„Die Ursache des Duells sollte ein Zwist um politische Meinungsverschiedenheiten gewesen sein; ich konnte nicht daran glauben. Unter Werners Papieren war nichts, was mir Aufklärung gegeben hätte. Auf seinem Schreibtisch hatte sich nur ein Billet an mich gefunden, das die wenigen mit Bleistift geschriebenen Worte enthielt:

„Für den Fall meines Todes laß Dir Isidore und Guntershausen empfohlen sein. Ich hätte gern für Beide gelebt, aber ich verlasse sie in der Zuversicht, daß Du in treuer Sorge über sie wachen wirst.“

„Ein Häufchen Asche im Ofen verrieth, daß Werner noch zuletzt einige Papiere verbrannt hatte. In geschäftlicher Beziehung hatte er Alles bis in’s Kleinste geordnet; so blieb mir, als ich – für den Augenblick wenigstens – der Hoffnung, ihn zu rächen, entsagen mußte, nur die traurige Pflicht, seine sterblichen Ueberreste nach Guntershausen zu begleiten. „Dein nächster Besuch wird zu Werners Hochzeit sein,“ hatte Tante Ernestine gesagt; statt dessen fuhr ich jetzt hinter seinem Sarge in den Schloßhof ein. Auf dem Thurme wehte die Trauerflagge, Gänge und Treppen waren schwarz verhängt, und von Meilen in der Runde waren Vornehme und Geringe zusammen gekommen, dem allgemein Geliebten und Beklagten das letzte Geleit zu geben.

„Auch Tante Ernestine war gekommen. Ich erschrak, als sie mir an der Thür des Saales in ihrer tiefen Trauerkleidung entgegentrat. Sie sah noch strenger und starrer aus, als sonst, und schien in den Monaten unserer Trennung um eben so viele Jahre älter geworden zu sein. Sie reichte mir stumm die Hand und drückte die meinige fest und lange, dann führte sie mich nach dem Hintergründe des Zimmers, wo sich eine zweite, schwarzgekleidete Gestalt vom Sopha erhob. Es war Isidore. Auch sie war sehr verändert, sehr bleich, sehr ernst, aber vollkommen ruhig. Ruhig schlug der Puls der kleinen, kalten Hand, ruhig hoben sich die blauen Augen zu mir auf, als sie ein paar Worte über den schweren, schmerzlichen Verlust sagte, der uns Beide betroffen – und als sie später, beim Anblick des Sarges, in Thränen ausbrach, war’s nicht das bittere Weinen, das uns körperlich und seelisch erschüttert. Die Thränen rannen über ein Gesicht, das nichts von dem schönen Einklang seiner Züge verlor. Mir wurde unheimlich in Isidorens Nähe; ich athmete auf, als endlich mit dem letzten Wagen der Trauergäste auch der Wagen der Tante vorfuhr und ich mit meinem Kummer in dem Hause allein war, das ich fortan besitzen und regieren sollte.

„Es war eine Aufgabe, die über meine Kräfte ging, und ich weiß nicht, wie ich ohne Tante Ernestinens Hülfe im Stande gewesen wäre, sie zu lösen. Aber sie stand mir zur Seite mit einer Bereitwilligkeit und Selbstverleugnung, die ich ihr nie vergessen werde. Sie führte mich in die ziemlich verwickelten Verwaltungsgeschäfte ein, gab mir Aufschlüsse über Charakter und Brauchbarkeit meiner Untergebenen, wußte mich bald anzuspornen, bald zurückzuhalten – kurz sie war die Seele meiner Thätigkeit, und so konnte ich, trotz meines innern Widerstrebens, nicht vermeiden, beinahe täglich, wie mit der Tante, so auch mit Isidore zusammen zu kommen. Aber näher traten wir uns dadurch nicht; im Gegentheil, unser Verhältniß wurde immer gezwungener – ich konnte fast sagen, daß es ein unfreundliches war. Mehrere Monate waren so hingegangen, als mich eines Tages Tante Ernestine durch ihren Besuch überraschte. Sie kam allein, und nachdem wir die vorliegenden Geschäfte beseitigt hatten, fragte sie mich ohne jeden Uebergang und ohne Umschweife, was ich gegen Isidore hätte.

„Ebenso unumwunden war meine Antwort. „Sie hat kein Herz,“ sagte ich; „sie hat meinen Bruder nie geliebt, diesen besten, warmherzigsten aller Männer. Sie liebt überhaupt nichts, als sich selbst.“

„Du thust ihr Unrecht,“ erwiderte Tante Ernestine. „Sie hat Werner tief betrauert.“

„Das heißt, sie hat genau so viel Krepp zu ihrem Anzuge verwendet, als für eine trauernde Braut schicklich ist,“ fiel ich ein. „Sie hat sogar die Flatterlocken zusammengeflochten, und wird sich vor Ablauf des Trauerjahrs wohl nicht erlauben, laut zu lachen.“

„Du bist sehr bitter,“ sagte Tante Ernestine vorwurfsvoll, „Du bist sogar grausam. Eine leidenschaftliche Natur ist Isidore freilich nicht, aber doch eine wärmere als Du glaubst. Und daß sie Niemand lieben soll, als sich selbst – Thor der Du bist! Was kann das arme Herz dafür, wenn es nicht im Stande war, Werners glühende Zuneigung ebenso glühend zu erwidern? Muß es darum todt und kalt sein? Glaube mir, das Kind hat einen schweren Kampf gekämpft und kämpft noch immer.“

„Um Rieth, diesen Elenden!“ schrie ich auf. Tante Ernestine legte die Hand auf meinen Arm und warf mir einen der bezwingenden Blicke zu, die ihr zu Gebote stehen, wie Niemand sonst.

„Den Namen wirst Du nie mehr nennen,“ sagte sie streng. „Ich gebe Dir mein Wort, daß das Verhältniß zu ihm eine Kinderei gewesen ist, das tändelnde Spiel einer kleinen Pensionärin, die sich langweilt. Willst Du aber wissen, welch Gefühl ich meine,“ fügte sie nach einer Pause hinzu, „so merk’ auf, mein Junge, wen

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