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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Selbst der Zwang, der sie sonst in Gegenwart ihres Vetters bedrückte, war verschwunden – und war es möglich, daß sich beängstigende, beschämende Erinnerungen wohl gar unter diesem Lachen und Necken verbargen? War es möglich, daß ein so junges Wesen – sie war ja noch ein halbes Kind – mit solcher Vollendung Komödie spielte? Bald sprach ich sie frei von allem Verdacht und machte mir bittere Vorwürfe, bald wurde mein Mißtrauen durch ein Wort, einen Blick des verhaßten Rieth auf’s Neue geweckt. Es war ein Zauberkreis, aus dem ich mich vergebens loszureißen suchte – ich sah nichts mehr, dachte nichts mehr als Isidore.

„Dabei hatte ich das unbestimmte Gefühl, daß in unserem Kreise nach und nach eine Verstimmung eintrat. Tante Ernestine sah noch strenger aus, als gewöhnlich; die gute, sanfte Margarethe traf ich mehr als einmal mit rothgeweinten Augen, ohne daß sie mir sagen wollte, was sie betrübte; Anna ging umher wie eine zürnende Göttin; selbst Hardorf war nicht mehr der Alte. Nur, wenn ihn Isidorens Heiterkeit ansteckte – sie schien sich ein Vergnügen daraus zu machen, bald den Einen, bald den Andern von uns mit sich fortzureißen – hörte man ihn lachen, wie sonst. Werner war der Einzige, der sich gleichblieb. Leider war er den größten Theil des Tages durch die Rechnungen zum Jahresabschluß in Anspruch genommen, aber sobald er sich zu uns gesellte, war Alles gut. Er wurde zum Mittelpunkt des verstörten Kreises, die gereizten Gemüther kamen zur Ruhe, und die flatterhafte kleine Fee, die uns Alle verwirrte, schien nur noch für ihn Auge und Ohr zu haben. Herr von Rieth sogar wurde dann vollständig übersehen.

„Aber was in der Tiefe grollte, kam endlich doch zum Ausbruch. Es war am Sylvestertage. Das Wetter war schön, wir wollten eine Schlittenfahrt machen. Als wir uns zur Abfahrt versammelten, fehlte Margarethe. Tante Ernestine trug mir auf, sie zu rufen, und ich fand sie auf ihrem Zimmer in Thränen aufgelöst auf dem Sopha liegend.

„Laß mich,“ schluchzte sie, als ich meinen Auftrag ausrichtete. „Sag, daß man nicht auf mich warten soll, ich kann nicht mitfahren.“

„Was wird Tante Ernestine sagen?“ warf ich ein, „und Hardorf?“

„Margarethe richtete sich auf. „Hardorf!“ wiederholte sie mit einer Heftigkeit, die mir ganz fremd an ihr war. „Hardorf kann desto ungestörter an die bezaubernde Isidore denken.“

„In diesem Augenblicke trat Anna in’s Zimmer. „Margarethe!“ rief sie vorwurfsvoll, „wie kannst Du Dich so vergessen! Sieh doch nur, wen Du vor Dir hast. Diese Männer sind ja alle in das kokette Ding vernarrt – Lothar womöglich noch mehr, als die Andern. Aber ich habe die Geschichte satt und werde einmal ordentlich mit Tante Ernestine sprechen.“ Und ohne mir zur Antwort Zeit zu lassen, rauschte sie hinaus und zog Margarethe mit sich fort.

„Also eifersüchtig war die arme Schwester! Mir fiel es wie Schuppen von den Augen; ich erkannte, daß ihr sowohl Hardorfs wie Isidorens Benehmen Veranlassung dazu gegeben hatte. Aber wie war das möglich, daß auch ich im Verdacht stand, von der Zauberin bethört zu sein? Es fuhr mir siedend heiß durch die Adern bei diesem Gedanken, und ein Gefühl von Erbitterung gegen das schöne Mädchen regte sich in mir, während ich langsam hinunter ging.

„Auf der Treppe kam mir Joseph entgegen. „Es wird nicht ausgefahren,“ sagte er. „Frau Aebtissin Gnaden und der Herr Graf haben Besuch bekommen“ – und nun nannte er mehrere Familien aus der Nachbarschaft.

„Ich war nicht in der Stimmung, mit Fremden zusammen zu sein, beschloß einen Spaziergang zu machen und wollte, um nicht gesehen zu werden, durch den kleinen Thurm in’s Freie gehen. Als ich die Treppe erreichte, hörte ich unter mir im Flur die Stimme des Herrn von Rieth. – „Warum willst Du mir den Wunsch nicht erfüllen?“ sagte er im durchdringenden Flüstertöne. „Die, Schlitten sind noch angespannt.“

„Ich bog mich über das Geländer und sah hinunter. Es war Isidore, die vor dem Sprechenden stand. Was sie erwiderte, hörte ich nicht, aber während ich rasch die letzten Stufen hinunter eilte, fing Rieth wieder an: „Und wenn es wirklich nur eine tolle Laune wäre,“ sagte er, „was geht es Dich an! Wenn ich will,“ – er betonte das Wort in eigenthümlich drohender Weise – „so hast Du zu gehorchen, mein Kind, das weißt Du doch.“ „In diesem Augenblicke stand ich neben ihm. Die Teppiche auf Gang und Treppe hatten meinen Schritt unhörbar gemacht. Ich legte die Hand auf seinen Arm und sagte bebend vor Zorn: „Sie haben hier nichts zu wollen, mein Herr! Ich bitte, daß Sie meine Schwägerin mit Impertinenzen verschonen.“

„Isidore schrie auf und verschwand in der nächsten Thür. Rieth starrte mich im ersten Moment halb erschreckt, halb verlegen an, aber gleich darauf war er wieder Herr seiner selbst. Er tritt einen Schritt zurück, maß mich vom Kopf bis zu den Füßen mit seinem häßlichen, spöttischen Blick und sagte im hochmüthigen Tone: „Nun, Knabe, was hat das zu bedeuten?“

„Das werden Sie wohl verstehen,“ rief ich, kaum im Stande, mich zu mäßigen; „besonders wenn ich Ihnen sage, daß ich Ihre Unterredung am Weihnachtsabende gehört habe.“

„Ei, wir spioniren!“ rief er hämisch.

„Aus Rücksicht für Isidore habe ich geschwiegen,“ fuhr ich fort, „aber nun ist’s aus. Ich verlange Erklärung, Entschuldigung oder Satisfaction. Sie haben meinen Bruder, meine Schwägerin und mich beleidigt.“

„Herr von Rieth lachte. „Satisfaction, mein junger Alexander,“ sagte er, „die sollen Sie haben, sobald Ihnen der Himmel den ersten Flaum um’s Kinn bescheert!“ dabei sah er mich wieder von oben herunter an, in einer Weise, daß ich mir ganz knabenhaft neben ihm vorkam. Aber ich ließ es mir nicht merken. – „Herr!“ schrie ich wüthend, „ich trage des Königs Rock!“

„Und er steht Ihnen gut,“ erwiderte Rieth mit spöttischer Ruhe. Dabei faßte er meine Hände und hielt sie fest, wie in einen Schraubstock geklemmt. „Hören Sie mich an, junger Mensch,“ fuhr er in ernstem, sehr herablassendem Tone fort. „Ich sehe Sie auf dem besten Wege, sich eine große Dummheit, wenn nicht mehr, zu Schulden kommen zu lassen. Daß Sie in die Stricke der kleinen Hexe gefallen sind, mache ich Ihnen nicht zum Vorwurfe – ist es doch mir altem Knaben vor kurzer Zeit nicht viel besser gegangen. Aber hüten Sie sich, mein junger Freund, die traurige Geschichte von der schönen Friederike und den „feindlichen Brüdern“ zu wiederholen, und hüten Sie sich ferner, Ihr gutes Schwert zu mißbrauchen, um einer so durchtriebenen Kokette willen. Sie ist’s nicht werth, glauben Sie mir und beherzigen Sie meinen Rath. Wollen Sie nicht darauf hören, so werden Sie mich bereit finden, wozu Sie immer wollen.“ Mit diesen Worten ließ er mich los, machte mir eine kurze Verbeugung und ging.

„Einen Augenblick war ich wie betäubt vor Schmerz und Wuth. Dann stürzte ich in den Park hinaus und irrte stundenlang in den verschneiten Wegen umher. Als ich endlich wieder heimkam, war mein Entschluß gefaßt. Rieth sollte sich mit mir schlagen, und wenn ich ihn durch eine öffentliche Beschimpfung dazu zwingen mußte. Es war zu spät. Herr von Rieth sollte Briefe bekommen haben, die ihn sofort nach der Hauptstadt riefen, und war bereits seit einer Stunde unterwegs. Mein erster Gedanke war, ihm nachzueilen, aber wie sollte ich das vor Werner motiviren? Ihm die Wahrheit sagen? Welche Gewißheit konnte ich ihm geben, welche Thatsache anführen? Vielleicht lief Alles auf eine kindische Koketterie hinaus – und darum sollte ich des Bruders glückliche Zuversicht stören?

„Während ich noch darüber nachsann, ließ mich Tante Ernestine rufen. Es waren ein paar Freunde des Hauses da, denen ich mich präsentiren mußte. „Bis morgen will ich warten,“ sagte ich zu mir selbst, nahm mich zusammen, so gut ich konnte, versenkte mich in endlose Gespräche mit den Nachbarn, stieß auf alle üblichen Sylvestertoaste an, auch auf den zweifelhaften Wunsch, daß ich bald eben so glücklich sein möge, wie mein Bruder.

„Von ganzem Herzen, guter Junge!“ rief Werner, der mir sein Glas zustreckte. Ich sah zu Isidoren hinüber; sie wurde roth, aber meinen Blick hielt sie aus; es lag etwas wie Vorwurf und Bitte zugleich in den tiefen blauen Augen. „Es ist nicht möglich, sie kann nicht schuldig sein!“ rief es in mir. Aber in demselben Momente tönte mir auch Anna’s Vorwurf und die hämische Warnung des Herrn von Rieth in den Ohren. War ich meiner selbst noch sicher – war mein Urtheil noch ein ungetrübtes, oder konnte mich wirklich das schöne Mädchen verlocken, wohin es ihr gefiel? Das Beste war, mich zu retten aus dieser Atmosphäre voll Leidenschaft, Mißtrauen und Lüge. Ich dachte an Eva, bei ihr mußte ich Erlösung finden.

„Die Umstände sollten meinem Verlangen nur zu gut entgegenkommen. Schon am nächsten Morgen erhielt ich einen Brief,

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