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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

No. 9. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Aus dem Gedenkbuche der Gartenlaube.
Keine regenerirende Idee ist gleich fertig, gewappnet aus dem Schooße der Zeit gesprungen; alle Reformatoren haben für Aufrührer, für Unsittliche, für Empörer gegolten; alle neuen Seelen sind verspottet, mißachtet und wo möglich gekreuzigt worden. Geschieht dies jetzt nicht, so ist es wahrlich nicht die Schuld der Einzelnen, deren bestehende Rechte von den Reformatoren angetastet werden. Die Waldenser, Albigenser, die Hussiten, Savonarola und Wiklef mußten mit ihren Anhängern untergehen, ehe Luther das Werk der Reformation vollbringen konnte. Als er die päpstliche Bulle abriß von der Kirchenthüre zu Wittenberg, um sie unter dem Zujauchzen der Studenten auf offenem Markte zu verbrennen, als er, der Augustinermönch, dem Ehelosigkeit Gebot war, die Nonne Katharina von Bora aus dem Kloster führte und sich von einem seiner Freunde als Gattin antrauen ließ, da haben sehr viele diesen Empörer gegen Religion und Staat auch für einen höchst sittenlosen Menschen gehalten und ihm eben solche Gräuel angedichtet, wie den heutigen Reformatoren aufgebürdet werden. Hat doch selbst Christus, der sich mit Handwerkern umgab, der durch ununterrichtete Männer des Volkes die Schriftgelehrten und Pharisäer bekehren wollte, der mit eigner Hand die Geißel schwang gegen die Krämer im Gotteshause, für einen Aufwiegler, für einen Empörer gegolten und ist als solcher gekreuzigt worden. Wie mag man sich denn noch immer wundern, daß man auch jetzt die Menschen verleumdet, welche die Irrthümer, die furchtbaren Widersprüche unserer Zustände aufdecken und danach streben sie zu verbessern? Wie gibt es immer noch Menschen, die sich durch fremdes Urtheil irren lassen und davor erschrecken, daß man sie revolutionair und sittenlos nennt, weil sie den Muth haben, den alten Schlendrian der zur Sitte gewordenen Unsitte, den Schein des zum Recht erhobenen Mißbrauchs dreist und frei von sich zu werfen! Das hat Jeder thun, Jeder dulden müssen, der die Wahrheit gegen die Lüge, und sich selbst gegen das Beugen unter die Lüge vertheidigte, und als Christus den Tempel säuberte, Luther die Bannbulle verbrannte, da ist für den verständigen, für den innerlich freien Menschen auch die Furcht vor dem Götzen „Was wird man dazu sagen?“ verbrannt, der noch immer als erster Gott die Erde beherrscht und für die Schwachen die Stelle sittlicher Ueberzeugung vertritt.
Fanny Lewald.


Guntershausen.
Von Claire von Glümer.
(Schluß.)


Nach einer Pause fuhr Hedwig in der Weiterlesung von Lothars Bericht fort: „Herr von Rieth bemächtigte sich lachend der einen Hand des jungen Mädchens. – „Warum ich gekommen bin?“ antwortete er. „Natürlich aus Sehnsucht nach Dir, mein Engel, und um mich an Deinem Glücke zu freuen, Deine Talente zu bewundern. Du spielst ganz herrlich Komödie, kleiner Schatz. Aber laß Dir gestehen, daß ich über Deine Wahl erstaunt bin. Dieser trockene Werner, was ist er eigentlich? Mehr Landjunker oder mehr Gelehrter? Ich fürchte, ein schönes Gemisch von Beidem. Du wirst eine langweilige Ehe haben, arme Kleine. Warum hast Du Dir nicht lieber den Lothar gefangen, wenn es einmal ein Guntershausen sein muß? Der ist doch wenigstens ein hübscher, frischer Junge.“

„Sie hatte den Kopf gesenkt; jetzt erhob sie ihn wieder – ihr sonst so liebliches Gesicht war finster, beinahe bös.

„Mach ein Ende!“ sagte sie. „Und kein Wort gegen Werner! Werner ist gut.“ Mit diesen Worten machte sie sich los, nahm Licht und Körbchen wieder auf und eilte zur gegenüber liegenden Thür hinaus.

„Rieth lachte hinter ihr her. „Vortrefflich!“ rief er; „vortrefflich, kleine Komödiantin!“

„Jetzt hielt ich mich nicht mehr. Er sollte wissen, daß ich ihn belauscht hatte, sollte mir Rechenschaft geben. „Herr von Rieth!“ rief ich aufspringend, aber ich bekam keine Antwort, meine Hand griff in’s Leere; er war bereits zur Thür hinaus, und als ich den Gang hinunter eilte, ihm zu folgen, wurden eben die Saalthüren aufgestoßen. Das Weihnachtsglöckchen läutete, die kleine Hedwig stürzte jauchzend an mir vorüber, die Dienerschaft, die plötzlich aus allen Thüren und Winkeln hervorkam, drängte nach – ehe ich mich besinnen konnte, stand auch ich in dem lichtstrahlenden, blumengeschmückten, von würzigem Tannenduft erfüllten Raume und mein Blick fiel auf Isidore, die, auf Werners Arm gelehnt, von den goldglänzenden Locken wie von einer Glorie umwallt, unter dem großen Weihnachtsbaume stand und mit der heitersten, unbefangensten Miene in das fröhliche Treiben sah.

„Alles bewunderte, dankte, fragte wirr durch einander. Tante Ernestine ging mit dem Anstande einer Königin umher, die Huldigungen der Untergebenen in Empfang zu nehmen. Hardorfs Lachen, Hedwigs lustige Stimme ließen sich bald aus dieser, bald aus jener Gruppe hören. Mich überfiel eine Art von Heimweh nach der stillen Weihnachtsfeier beim Onkel Hersenbrook, und so oft ich seitdem in Guntershausen den Weihnachtsbaum brennen sah, hat mich dasselbe schmerzliche Gefühl beschlichen.

„Mit wunderbarer Geschicklichkeit wußte mir Rieth an diesem Abende auszuweichen, so daß wir uns, trotz meiner Bemühungen, keinen Augenblick allein zusammen fanden. In den nächsten Tagen war sein Benehmen gegen mich aber wieder ganz das alte freundlich herablassende, und mehr als einmal kam ich auf den Gedanken, daß ich die Scene im blauen Zimmer geträumt haben müßte. Oder konnte Isidorens übermüthige Fröhlichkeit erkünstelt sein? –

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_129.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)