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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Male wieder das englische Bierzeichen. Wir trinken ein Glas Porter, das in London 1, hier 8 Pence kostet, und quälen uns mit unserm Gepäck nach Melbourne zu, die Sandrücken-Straße hinauf, vor einigen Jahren noch eine melancholische Wildniß, jetzt eine auf beiden Seiten von Häusern und Palästen, Läden und dichtem Verkehr belebte Hauptstraße, wie denn überhaupt das ganze Melbourne mit all seiner glänzenden Pracht von außen boden- und geschichtslos, pilzartig in die Höhe geschossen ist, blendend in Neuheit, überall unvollendet und überall schon wieder ruinenhaft zerbröckelnd, berstend unter glühender, farbloser Sonne und kalten Platzregen der Nächte.

Hunderte von Quadratmeilen ringsum sind goldhaltig, Tausende von der mehr als 100,000 Geviertmeilen großen Oberfläche menschenleer und fruchtbar; aber das Gold und die englische Aristokratie haben bereits dafür gesorgt, daß der großen Masse der fruchtbare Boden verschlossen bleibe oder ein Fluch werde. Man hat ihn in Bausch und Bogen in Beschlag genommen, verkauft ihn sehr selten als reines Eigenthum und zwar nur zu fabelhaft hohen Preisen und verpachtet ihn in der Regel auf bestimmte Zeit, bis der Pächter durch seinen Schweiß der Scholle Werth gegeben; dann jagt man ihn fort und verpachtet für 5–10 Mal höheren Preis. Das ist, nebst dem Golde, der englische Fluch Australiens, von welchem nur die Deutschen bei Adelaide (die 1848 größtentheils von Berlin auswanderten) und überhaupt die älteren Colonisten ausgenommen sind. Daher sind diese auch reich und wohlgebildet, während die moderne, bodenlose Masse, die kein Grundeigenthum erwerben kann, ebenso verlumpt und verkommt, wie das Proletariat Englands.

In Amerika blühen Millionen freier, deutscher Bodenbesitzer und Weinbauern (die Zukunft des Weines gehört Amerika, und zwar den Deutschen); in Australien können Deutsche blos als Dienstboten, Tagelöhner, Handwerker oder als Lehrer gedeihen, natürlich auch als Kneipiers, als welche sie sich unter allen Längen- und Breitengraden ebenfalls auszeichnen.

Doch wir sind immer noch nicht in Melbourne, und die grosse Lagune zur Rechten, das verhältnißmäßig schönste und charakteristischste Landschaftsbild in der Nähe, hält uns noch ein Weilchen auf. Mageres Gras mit einigen violetten, sternförmigen, geruchlosen Blumen knistert brechend unter unsern Füßen. Dazwischen einzelne traurige, blechartige Bäume mit grauem, rothem, versengtem Laubwerk. Alles umher brütet unheimlich still in der Hitze: nur unzählige Insecten brummen emsig umher, und die Papageien, Kakadus, Lori’s und gespenstisch graue Königsfischer oder Lochvögel mit den seltsamsten aller monströsen Schnäbel krächzen, schimpfen, pfeifen, lachen, schmatzen zuweilen auf, toller wie in einer Wolfsschlucht des Freischütz, aber nicht ein einziger kann singen. Lange schwarze Schlangen mit weißen und rothen Streifen schnellen sich bei Seite und werfen Dir aus grausamen, stieren Augen Blicke des giftigsten Hasses zu. Aus dem Baumstumpfe, der wie ein riesiger hohler Zahn aussieht, starrt, wie versteint, eine vorsündfluthliche Eidechsenform Ignana. Plötzlich rauschendes Leben zwischen dem gelben, schilfigen Ufergrase. Bronzene Flügel und purpurne Schwänze durchkreuzen die sapphirische Himmelsfarbe – eins – zwei – drei – vier Schüsse – eben so viel fallende Enten, die von zerlumpten, deutsch sprechenden Kerls aufgefischt und an die Speisewirthe verkauft werden.

Von der Lagune steigen wir über Emerald Hill in die Mitte der Stadt, die in ihren Straßen und Häusern, in Armuth und Pracht, in Liederlichkeit und sauberer Vornehmheit so alltäglich modern nichtssagend aussieht, daß wir darüber kein Wort verlieren. Der Wunder größtes auf diesem Wege und den Straßen überhaupt ist die Fülle von Unreinlichkeit mit abgelegten, man darf kaum sagen, alten Sachen. Schuhe, Strümpfe, Hemden, Röcke männlichen und weiblichen Geschlechts, Halstücher, ganze Garderoben liegen auf den Straßen umhergestreut, ohne daß sie Jemand beachtet oder gar aufhebt, selbst wenn er in Lumpen vorbeigehen sollte. Wo sind die Habichtsnasen mit ihrem Enthusiasmus für „alte Sachen?“ Das Geheimniß ist bald gelöst: erstens kostet ein Hemd zu waschen mehr, als ein neues, ein Rock auszubessern mehr als ein neuer; zweitens wüthet die Pest, der Typhus, in der Stadt von Zelten, die sich am Emeraldhügel hinzieht. Wenn Tausende von Emigranten wöchentlich hereinströmen, so können sich oft auch wohlhabende Leute und Familien für das schwerste Geld nicht Dach und Fach erkaufen. Eine sehr reiche englische Familie, die mit mir gekommen war, wohnte in einem noch nicht ausgebauten Hause von drei Zimmern einen Monat für vierzig Pfund Sterling.

Die meisten Ankömmlinge sind froh, wenn sie zunächst in der Zeltstadt Schutz vor den Nachtregen finden; aber wenn die Fluthen die Koffer aus dem Zelte wegschwemmen und beim Aufwachen das Wasser bis an den Mund reicht, kein Feuer brennen will und der Sturm die Zelte wie Regenschirme umkrempelt, wenn Typhus-Pest und unerhörte Ruchlosigkeit um uns im tiefsten, stinkenden Schmutze wüthen: dann verliert das romantische Zigeuner-Leben in der Leinwandstadt bald seinen Reiz. Vor meinen Augen begruben sie eines Tages zwei Typhus-Leichen in einem Pökelfleischfasse und brüllten lustige Zoten dazu und tranken Spiritus wie Wasser. Zwischen den Zeltgassen werden nicht selten am hellen Tage einzelne Neulinge überfallen, beraubt und noch lebendig tief in den Koth hineingetreten, daß sie ersticken und liegen bleiben, bis ein Nachtplatzregen sie zum Theil herausspült. Was Thucydides, Boccaccio und Defoe Schreckliches von den demoralisirenden Wirkungen der Pest schilderten, in der Zeltstadt von Melbourne wiederholte es sich ziemlich genau während der Typhuszeit, deren schrecklichste Periode in das Jahr 1853 fiel, die seitdem aber nie wieder ganz aufhörte.

Weiter stadtwärts passiren wir den botanischen Garten in noch chaotischer Unordnung und gehen über die „Fürstenbrücke“, gebaut von Gold, wenigstens lauter goldhaltigen Quarzstücken, in das eigentliche Verkehrsnetz der Stadt. Im abenteuerlichsten Gänsemarsch wackelt uns eine Horde Chinesen entgegen, weitblauhosig mit kleinen Kähnen statt der Schuhe, braungelb, immer lächelnd, schiefschlitzäugig, mit bienenkorbartigen Kopfbedeckungen, Jeder mit einer Bambusstange auf der Schulter und einem baumelnden Bündel ganz oben an der Spitze, von den Jungen an den Zöpfen gezupft, von Allen höhnisch verlacht und immer lächelnd, die geheimnißvollsten Menschengestalten der Welt, eben so unverständlich in ihren Gesticulationen wie mit ihrer bald tief im Magen knurrenden, bald in der höchsten Fistel quiekenden Sprache. Je nach der Tonlage oder Tonfolge hat manches einzige Wort 20–30 Bedeutungen. Ueberhaupt ist hier das wahre, lebendige ethnologische Museum: Franzosen, deutsche Biergesichter, Italiener, schielende Spanier, Dänen, Malaien mit wilden, mordlustigen Augen, tättowirte Maori’s (Eingeborne von Neuseeland), betrunkene Neger aus Amerika, zähnefletschende, bläulich braune Papuaner ohne Stirn und mit weit hervorragenden, breitmäuligen Gebissen, magere, gelbe Amerikaner, hakennasige Juden, Engländer, Schotten, Irländer, alle mögliche Nationen beider Halbkugeln mit dem charakteristischen, professionellen „Digger“ oder „Goldsucher“, aus dessen Wasserstiefeln ein frecher, wilder Kerl hervorragt mit einem Gesichte aus lauter Bart, aus welchem nur Nase und barbarische Augen hervorscheinen, pistolenumgürtet, Straußenfedern auf dem Hute, reitend, fahrend, brüllend, Champagner aus Zinn-Bierkrügen trinkend – heute ein Crösus, morgen ein Bettler. „Wie gewonnen, so zerronnen“! Vielleicht ist es ein Natur- und Sittengesetz, daß Geld, je leichter es in die Hände kommt, desto leichter und rascher, demoralisirender wieder davonläuft. Die „Diggers“ verbringen oft thatsächlich in einer einzigen, liederlichen Nacht den Lebensunterhalt eines ganzen Jahres. Sie kommen mit einem Sacke voll Goldstaub oder „nuggets“ an, verkaufen es im ersten besten Laden, an dessen Schaufenstern mit ungeheueren Buchstaben tausendweise die Worte prangen: „Gold bought in any quantity“ (hier wird jede Menge von Rohgold für baar Geld gekauft), poltern in große Restaurations-Paläste hinein, an deren Eingangsthüren „Very dear!“ (sehr theuer!) als Lockspeise für die Eintagsfliegen von Crösus angebracht ist, und verbringt die Nacht in den lebensgefährlichsten Spitzbuben-, Mörder- und Dirnenherbergen, den Clubs Londoner „Schwarzbeine“ (entkommener Verbrecher) und der „Herren von Drüben“, wie die entlassenen Deportirten von Van Diemensland genannt werden.

Auf dem Wege nach Hause wird der „Digger“, wenn er nicht Alles durchgebracht hat, sehr oft nieder- oder todtgeschlagen und beraubt. Oder er besucht Concertsäle, wo er der Primadonna Champagner in Zinn-Bierkrügen reicht, den Pianisten, der ihm nicht Lärm genug macht, mit Orangenschalen bombardirt und fortfährt, allen möglichen Unfug zu treiben, bis er unter cannibalischem Tumult hinaus- und den Nachthabichten als Beute vorgeworfen wird.

Von Theatern, Concertsälen, Kirchen, Spiel- und noch schlimmeren Häusern kann ich nicht viel Rühmliches sagen, zumal da ich nicht dafür stehen kann, was sich Alles während der wenigen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_118.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)