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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

hergekommen?“ Mit diesen Worten zog sie die Athemlose an ihre Seite und strich ihr die langen verwirrten Locken aus der Stirn.

„Mit Tante Ernestine bin ich gekommen,“ antwortete das junge Mädchen. „Seit vorgestern bin ich bei ihr. Heute Nachmittag wollte ich Euch in Guntershausen besuchen, da kam der Brief von Deiner Mutter, und ich erfahre, daß Du … daß Lothar …“

„Daß wir verlobt sind,“ ergänzte Eva.

Hedwig fiel ihr mit einem Ausdrucke des Schreckens in’s Wort: „Sag’ das nicht, um Gotteswillen nicht!“ rief sie mit aufgehobenen Händen.

„Auch Du willst gegen uns sein?“ fragte Eva halb erstaunt, halb unwillig. Hedwig ließ sie wieder nicht ausreden.

„Ich gegen Euch?“ rief sie in Thränen ausbrechend. „O, Eva, wie kannst Du das sagen! Ich will nur nicht – es ist nur nicht möglich! …“ und wieder umschlang sie Eva’s Hals und preßte laut schluchzend den Kopf an ihre Brust.

Eva hielt sie eine Weile an sich gedrückt, hob dann den Kopf der Weinenden in die Höhe und fragte: „Hat Dich Tante Ernestine zu mir geschickt?“

„Gewiß nicht,“ betheuerte das junge Mädchen. „Tante Ernestine scheint mit Allem zufrieden zu sein.“

„Zufrieden!“ rief Eva erfreut.

„Mir schien es so,“ fuhr Hedwig fort. „Als sie den Brief Deiner Mutter las, hat sie freilich oft den Kopf geschüttelt, aber als sie ihn auf den Tisch legte und mir mittheilte, was geschehen war, blickte sie so herausfordernd umher, wie sie zu thun pflegt, wenn sie sagen will: „nun soll mir Einer kommen, der dagegen ist.“ Und dann ließ sie anspannen: sie müßte Deine Mutter zur Raison bringen, sagte sie – und ich bin mitgefahren und da ich Dich im Hause nicht fand, bin ich Dir nachgelaufen, um Dir zu sagen … um Dich zu bitten .. O, Eva, liebe Eva, wenn Du mir nur glauben wolltest.“

„Was soll ich denn glauben?“ fragte Eva, und nach einer Pause fügte sie lächelnd hinzu: „Ich bin Dir wohl nicht jung und schön genug für Deinen Bruder?“

Hedwig schüttelte den Kopf. „Laß die Scherze,“ bat sie trübe. „Mir ist’s nicht zum Lachen. Daß Du mir die Liebste und Schönste bist, weißt Du ja, und so bist Du’s natürlich auch für Lothar. Aber je lieber er Dich hat, um so weniger darf er Dich so unglücklich machen.“

Eva’s Geduld war zu Ende. „Erkläre Dich deutlicher,“ sagte sie streng, „oder peinige mich nicht länger.“

Hedwig rang die Hände. „Erklären!“ rief sie, „erklären! O, Gott das kann ich nicht.“ Dann sah sie eine Weile vor sich nieder, fuhr plötzlich empor und faßte Eva’s Hände, ganz in derselben Weise, wie es Lothar zu thun pflegte, wenn er sehr erregt war. „Eva,“ begann sie dann mit stockendem Athem, „hast Du denn nie gehört, daß ein Fluch auf Guntershausen liegt? Von zwei Eheleuten, die diesen Namen führen und dies Haus besitzen, wird immer der eine gewaltsam um’s Leben kommen.“

„Aber Hedwig, wie kannst Du Dich und mich um ein Märchen quälen!“ rief Eva vorwurfsvoll.

„Es ist kein Märchen,“ betheuerte Hedwig. „Der Großvater ist durch einen Sturz vom Pferde um’s Leben gekommen. – Seine Mutter, sie soll ganz so gewesen sein, wie Tante Ernestine, hat ein Knecht erschlagen, der durch ihre Härte zur Verzweiflung getrieben war. Von einem Guntershausen weiß man, daß er im Zweikampfe gegen den eigenen Bruder gefallen ist; von einem Andern, daß er auf Befehl des Königs vergiftet wurde – und die Gräfin Hildegunde, die noch heutigen Tages im Schlosse spuken soll, hat, um sich für die Untreue ihres Gatten zu rächen, erst die eigenen Kinder und dann sich selber getödtet. So geht es fort, von Geschlecht zu Geschlecht, bis in die fernsten Zeiten.“

„Zeiten voll Sagen und Aberglauben,“ warf Eva ein. „Ich glaube nicht an solchen Fluch.“

„Aber er ist noch immer wirksam; Du kannst ihn nicht leugnen,“ fuhr Hedwig fort. „Onkel Hans soll am Schlagflusse gestorben sein – der alte Joseph, der Alles weiß, hat mir gestanden, daß er sich in einem Anfalle von Schwermuth ertränkt hat – und frag’ ihn mal auf’s Gewissen, wie Isidore gestorben ist, er weiß es so gut wie ich.“

„Isidore? – Lothar’s Frau?“ wiederholte Eva, die sich eines leisen Schauders nicht erwehren konnte. „Isidore, Kind, ist am Nervenfieber gestorben.“

Hedwig lachte. Es war ein häßliches, unheimliches Lachen, das die schönen Züge des jungen Mädchens verzerrte. „So sagt man,“ erwiderte sie; „und so glauben’s die Leute, aber ich kann es Dir besser sagen. Sie ist erschossen – dort drüben in Guntershausen, in ihren eignen Zimmern. – Sieh mich nicht so zweifelnd an,“ fuhr sie nach einer Pause fort. „Ich bin bei vollem Verstande und sage Dir nur was ich gesehen habe. Ja, Eva, diese Hand hat auf der Wunde der armen, jungen Frau gelegen, und ich habe Alles mit eigenen Augen gesehen.“

Eva war tief erschüttert. „Weißt Du auch,“ fragte sie nach einer Pause, „weißt Du auch, wer der Mörder war?“

„Lothar!“ erwiderte Hedwig kaum hörbar, mit bebenden Lippen.

„Lothar!“ wiederholte Eva, indem sie die Sprechende voll Entsetzen anstarrte. „Lothar!“ sagte sie noch einmal und nach langer Pause fügte sie schaudernd hinzu: „Ich glaube es nicht, ich kann es nicht glauben!“ Aber dann kam die Erinnerung an Lothars Schwermuth, an manches räthselhafte Wort, das sie in seinen bösen Stunden von ihm gehört und nicht verstanden hatte, an tausend scheinbar geringfügige Dinge, die jetzt, in diesem Lichte gesehen, eine schreckliche Bedeutung gewannen. „Kannst Du mir erzählen, was Du gesehen hast?“ fragte sie endlich.

„Ich will’s versuchen,“ antwortete Hedwig. „Sieh, Eva,“ fuhr sie nach kurzem Besinnen fort; „ich habe nie mit einem Menschen davon gesprochen, habe gethan, was ich konnte, um es zu vergessen, es hat auch Zeiten gegeben, wo ich nicht daran dachte, aber so oft ich Guntershausen wiedersehe, steht mir der schreckliche Moment mit aller Lebendigkeit wieder vor den Augen, und zu denken, daß Du auf immer dort leben sollst –! Aber ich wollte Dir erzählen, was damals geschah,“ unterbrach sie sich selbst, gleichsam als Antwort auf Eva’s ungeduldige Gebehrde.

„Du weißt,“ fuhr sie fort, „daß Tante Ernestine, sobald Onkel Hans gestorben war, oder vielmehr, sobald sie Ordnung in die Geschäfte gebracht hatte, von Guntershausen nach Fischbach übersiedelte, wo sie bald darauf zur Aebtissin gewählt wurde. Meine Schwestern und mich ließ sie in der Pension, aber bald mußte die Eine, bald die Andere von uns monatelang bei ihr in Fischbach sein. Meine Schwestern fürchteten sich sehr vor diesen sogenannten Erholungsreisen, aber ich wurde ziemlich gut mit der Tante fertig, d. h. ich war ein ungezogenes Ding, das sich aus Befehlen und Verweisen wenig machte und immer nur that, was ihm gefiel.

„Nun muß ich Dir noch sagen, daß im Sommer vor fünf Jahren in Fischbach und der Umgegend das Nervenfieber grassirte, sodaß alle Damen flüchteten und auch wir nicht dort bleiben konnten – ich war nämlich zu jener Zeit bei der Tante. So kam’s, daß wir auf einige Wochen nach Guntershausen gingen. Aber wir wohnten nicht im Schlosse. Der alte Joseph behauptete, Onkel Hans wäre der Tante erschienen und deshalb möchte sie nicht dort sein – vielleicht war’s aber auch nur der Grund, den sie selber angab, nämlich daß sie weder genirt sein, noch geniren wollte, der sie dazu brachte, in das neue Gartenhaus unten im Park zu ziehen. Jedenfalls war’s da bequemer, sonniger, freundlicher, als im Schlosse – nur für meinen Flügel fand sich kein Platz, und so wurde ich täglich in’s Schloß hinaufgeschickt, um mich zu üben. Mir war das ganz recht und ich blieb oft stundenlang aus, aber nicht um langweilige Etüden zu spielen – ich saß statt dessen in der Bibliothek und verschlang allerhand verbotene Lectüre.

„Eines Nachmittags saß ich wieder einmal auf meiner Bücherleiter – herunterzusteigen nahm ich mir gar nicht die Mühe – und las den Siegwart. Tante Ernestine hatte gerade dies Buch auf’s Strengste verboten und so war’s natürlich, daß ich es mit Wonne genoß.

„Plötzlich höre ich Schritte auf dem Gange – so viel ich wußte, war doch nur Joseph zu Haus, denn Isidore sowohl, wie alle Domestiken waren zum Erntefest nach Berndorf hinunter gegangen, und Lothar war schon seit Wochen abwesend. Aber die Schritte nähern sich, und kaum habe ich Zeit gehabt, mich in eins der obern leeren Regale zu verstecken und die Vorhänge zusammen zu ziehen, als zu meiner großen Ueberraschung Isidore hereintritt. Sie sah erhitzt und ärgerlich aus, warf Hut und Sonnenschirm auf den nächsten Stuhl, trat an den großen Tisch, der in der Mitte des Saales steht, schloß auf, zog mit großer Anstrengung den schweren Schubkasten heraus, öffnete ein geheimes Fach, das dahinter angebracht war, und nahm ein Etui heraus, das wie ein Schmuckkästchen aussah. Dann brachte sie Alles in großer Hast wieder in Ordnung; wahrscheinlich hatte sie so gut wie ich gehört, daß sich abermals Jemand dem Saale näherte. Gleich darauf erschien der alte Joseph in der Thür. Auch er sah verstört und verlegen aus.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_099.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)