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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Zöglingen fort,“ sagte die Oberin, „und ziehen in einen Dienst; da besorgen wir nun die Ausstattung und nähen ihnen die Kleider, welche sie mitnehmen, und während der Arbeit liest Fräulein von ** vor.“ Dann sprach mein ärztlicher Freund mit einigen von den Mädchen, sich nach ihrem Gesundheitszustand erkundigend. Ich machte vor kurzem einen Besuch in dem Hause des Elends am Alexanderplatz, welches in der Acten- und Geschäftssprache der preußischen Büreaukratie sehr uneigentlich „das Arbeitshaus“ heißt. Als ich durch die Säle ging, in denen die liederlichen Mädchen detinirt werden, lachten sie mich an, kicherten mit einander und machten sich gegenseitig freche Bemerkungen. Die Mädchen, welche hier im Hause der Büßerinnen die Kleider ihrer scheidenden Genossinnen nähten, standen bei ihrem Eintritt wahrscheinlich auf einer weit tieferen Stufe der Verdorbenheit und Gesunkenheit. Und sie hatten die Schamlosigkeit und Frechheit auf ihren Gesichtern und in ihrem Wesen alle abgelegt. Niemand, der sie nicht kannte, wäre im Stande gewesen, die Geschichte ihrer Vergangenheit in ihren Zügen zu lesen. Es waren die Gesichter der reuigen Magdalena, nach der das Haus seinen Namen führt. Nichts, keine Bemerkung, keine Bewegung, erinnerte an ihre schreckliche Vergangenheit, Alle hatten das Aussehen fleißiger, sittsamer Arbeiterinnen. „Sind Sie zufrieden mit Ihren Zöglingen?“ fragte die Oberin Fräulein von **. „Ich habe nicht Ursache zu irgend einer Klage,“ erwiderte die Vorsteherin.

Dann gingen wir durch die Schlafzimmer, welche an das Arbeitszimmer stießen. Ueberall die größte Einfachheit, Ordnung und Reinlichkeit. Einige Mädchen gingen an uns vorüber, welche mit häuslichen Geschäften beauftragt waren. In ihrem Wesen war derselbe Ausdruck unverkennbar, wie bei den Mädchen in dem Arbeitszimmer, welche wir soeben gesehen hatten. Ueberall hätte man glauben sollen, man befinde sich in einer Pensions- oder Erziehungsanstalt für arme Mädchen. Es wurde dort unter Aufsicht und Mitwirkung einer Helferin die Wäsche gewaschen, welche der Anstalt aus der Stadt zur Besorgung zugeschickt wird. Welch ein Unterschied zwischen diesem Waschhause und dem Waschkeller des Arbeitshauses, dessen ich schon mehrmals erwähnt habe! Dort hatte ich die gemeinsten Schimpfreden und die frechsten Scherze gehört, welche mein Ohr jemals vernommen hat. Hier herrschte ein freundliches, ruhiges Wesen, ein gesittetes Benehmen; jede war mit ihrer Arbeit beschäftigt. Und doch waren es dieselben verwahrlosten Geschöpfe, welche ich in dem schrecklichen Waschkeller gesehen hatte. Die Milde und Erziehung, welche in den Räumen dieses Hauses herrschte, hatte ihre Herzen umgewandelt und veredelt. Eine Uhr schlug halb Eins. „Es wird gleich gegessen,“ sagte die Oberin; „wenn Sie wollen, können Sie bei unserem Mittagsessen gegenwärtig sein. Aber vorher, da Sie darnach gefragt haben, will ich Ihnen doch unser sogenanntes Gefängniß zeigen; Sie könnten sonst von hier scheiden und den Gedanken mitnehmen, daß wir unsere Erziehung mit strengen Strafen machten.“ Wir stiegen dann wieder die Treppe hinauf und kamen auf den Boden des Hauses. An der einen Seite desselben war eine kleine Bodenkammer abgetheilt. Es war ein kleines Stübchen mit der Aussicht in’s Freie. In demselben standen ein Tisch, ein Paar Stühle und ein sehr einfach bezogenes Bett. „Sehen Sie, dies ist unser sogenanntes Gefängniß, wenn Sie es so ansehen wollen,“ sagte die Oberin. Das Gefängniß sah aus wie die Stube eines armen Mannes, aber reinlich und hell.

Unten im Hause hatte das Mittagsessen bereits begonnen. Als wir den großen und freundlichen Saal betraten, fanden wir alle Mädchen an zwei weiß gedeckten, langen Tischen sitzend. Oben an dem Tische saßen die Vorsteherinnen des Hauses. Die Speisen bestanden aus Brühkartoffeln und Rindfleisch. Jedes Mädchen hatte einige Schnitte gutgebackenes Brod neben ihrem Teller liegen. Es schien Allen vortrefflich zu schmecken. Jede war nur mit ihrem Mittagessen und im leisen Gespräch mit ihrer Nachbarin beschäftigt. Keine Einzige richtete ihre Aufmerksamkeit auf uns, als wir in den Saal traten und mit der Oberin langsam zwischen den Tiscken durchgingen. Wenn ein Blick uns traf, so dauerte er nur eine Secunde. Wer in diesen Eßsaal trat, hätte, ohne es zu wissen, nie errathen, in welcher Gesellschaft er sich befand. Wir verabschiedeten uns von der Oberin und den Vorsteherinnen, und Erstere begleitete uns durch den Garten bis zu der kleinen Thüre, an der wir vor kurzem mit so großer Neugierde die Klingel gezogen hatten. Ich konnte nicht umhin, bevor wir den Garten verließen, der Oberin des Hauses meine Bewunderung auszudrücken über das, was ich gesehen und gehört hatte, und insbesondere meine Bewunderung über ihre eigene Aufopferung und Seelengröße, ihr Leben mit der Erfüllung einer so schwierigen Aufgabe hinzubringen, wie die war, welche sie hier übernommen hatte. „Darf ich wohl fragen,“ sagte ich, „wen ich die Ehre gehabt habe, heute kennen zu lernen, und jetzt meine ganze Bewunderung auszusprechen?“

Sie lächelte und sagte: „Ach, Sie wollen meinen Namen wissen, den ich einst in der Welt, jenseits der Mauern dieses stillen Hauses führte? Ich heiße von **.“

Verwundert sah ich sie an. Ich erkannte sie sofort wieder. „War Ihr Herr Vater nicht der Präsident von **, gnädige Frau?“ sagte ich.

„Ja wohl, mein seliger Vater war der Präsident von **. Kannten Sie ihn?“

„Ich hatte die Ehre, Ihren Herrn Vater zu kennen,“ erwiderte ich, nahm den Hut ab und verbeugte mich tief zum Abschiede. Fräulein von ** erkannte mich nicht mehr. Ich hatte sie oft früher in den glänzenden Gesellschaften der Residenz gesehen.

Die Thüre schloß sich hinter uns, und hinter uns lag das Haus der Büßerinnen, der stille Zufluchtsort für die elendesten und beklagenswerthesten Geschöpfe, welche auf Gottes schöner Erde leben. Wir gingen wieder zu dem Ufer des Flusses, und überschritten vorsichtig zum zweiten Male die ächzende Eisdecke. Drüben hielt unser Wagen. Dem Kutscher und den Pferden mochte die Zeit lang genug geworden sein. – – „Wissen Sie, Doctor,“ sagte ich zu meinem ärztlichen Freunde, als wir im gestreckten Trabe nach der Stadt zurückfuhren, „ich habe heute wieoer einen großen Menschen gesehen. Wie Sie wissen, durchstreifte ich im vorigen Jahre die östlichen Alpen und Ober- und Mittelitalien. Ich hörte in den Alpen von Geistlichen sprechen, welche an den Grenzen der Welt des Erstarrtseins wohnen, welche mitten in Eis und Schnee ein ganzes langes Leben der Seelsorge armer Bauern widmen. Ich dachte an die Säulenheiligen des Mittelalters, an jene unsterblichen Mönche und Einsiedler, welche in den ersten Zeiten des Christenthums ihr Leben für jene großen culturhistorischen Zwecke opferten. Ich stieg die Querthäler der Alpen hinauf bis zu den äußersten Grenzen der Vegetation, wo der erstarrende Tod nach den letzten Gräsern seine kalten Arme ausstreckt. Und was fand ich? Stupide Priester, welche ohne irgend eine hohe Idee ihrer großen Pflicht ihr Amt verwalteten, weil sie an dieser einsamen Stelle ihr kärgliches Brod aßen. Nur einmal fand ich in Italien einen Geistlichen, welcher, von dem Gedanken seines hohen Berufes begeistert, eine halbe Stunde von einer prächtigen, mit allem Luxus und allem Sinnenreiz geschmückten Stadt entfernt, einen schwierigen und mühevollen Beruf mit der ganzen Aufopferung eines begeisterten Menschen verwaltete. Es war der Pater Arzt in einem Irrenhause auf der kleinen Insel San Servolo in der Nähe von Venedig. Er gehörte zu dem Orden der Barmherzigen Brüder, und er hatte sich den Wahlspruch: „Fate bene fratella“ zu seinem Lebensprincip gewählt. Heute habe ich in der Oberin jenes stillen Hauses, welches wir soeben besucht haben, sein Ebenbild gefunden.“




Orthopädische Mittheilungen.
Von Dr. Paul Niemeyer.
(Zweiter Artikel.)

Es ist ein erfreulicher Fortschritt des Zeitgeistes, die Kenntniß der Krankheiten wenigstens in ihren äußersten Umrissen zu popularisiren, und die Gartenlaube hat diesen Fortschritt nicht am wenigsten gefördert. Möchte doch endlich auch in das noch so dunkle Gebiet der Orthopädie der Blitzstrahl der Aufklärung leuchten! dann würde manche Familie vor langjähriger Kümmerniß

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_090.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)