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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Es ist die schönste Kuh einer Sennerei; weil sie die Heerde auf der Weide stets anführt, hat sie eine Glocke am Halse, die Weidschelle genannt. Trifft es nun, daß zu einer Heerde durch Kauf eine Kuh kommt, die in ihrem früheren Engagement die Ehre hatte, Glockenkuh zu sein, und soll diese sich nun der Leitung einer anderen Heerkuh unterordnen, dann entsteht nicht selten zwischen Beiden ein Kampf auf Tod und Leben, – und zwar derart, daß die in Ruhestand versetzte Leitkuh ihre neue Vorgesetzte muthig und entschieden angreift. Darum nennt die Sennensprache eine solche die „Ringeri“. – Nicht minder muß man es zu verhüten suchen, daß die Zuchtstiere zweier Heerden einander begegnen, sonst entbrennt auch hier ein Kampf, der jedesmal mit Verlust endet. So z. B. in der Gemeinde Tamins (Graubündner Rheinthal), wo die Almend in zwei Theile getrennt ist und die dort weidenden Heerden äußerst selten einander ansichtig werden. Im Sommer 1856 trafen sich dieselben jedoch. Bei jeder Heerde war ein kräftiger Muni. Sobald die beiden gehörnten Souveraine einander ansichtig wurden, gingen sie unter wildem Gebrüll aufeinander los. Der Zweikampf begann, während beide Heerden lautlos zusahen, und endete damit, daß der eine Stier den anderen in einen tiefen Abgrund hinabstürzte. Aber vor der Wucht seinen Anlaufes konnte auch der Sieger sich nicht halten und stürzte dem Besiegten nach. Beide lagen zerschmettert in der Tiefe. Die herbeigeeilten Hirten wagten nicht dazwischen zu treten.

So wie die Alpenkühe, durch deren Schaaren der Alpen-Tourist gar häufig wandern muß, durch freudige Sprünge und liebkosende Zudringlichkeiten gegen ihnen bekannte oder unbekannte Menschen Gefühle der vertraulichsten Zuthunlichkeit unverkennbar ausdrücken, so zeigen sie außerordentlichen Widerwillen gegen Hunde. Sobald eine Alpenkuh einen fremden Hund erblickt (denn manche Sennen nehmen selbst starke Hunde mit auf Alp, z. B. im Kanton Unterwalden), stellt sie sich zur Gegenwehr, indem sie ihre Hörner als Angriffswaffe gebraucht, auf ihn zuläuft und ihn oft große Strecken verfolgt. Nicht selten kommt der Herr des Hundes dabei in Gefahr, wenn letzterer Schutz bei ihm sucht; die Kuh aber, weder Ansehen noch Stand der Person kennend, fährt fort, auf ihren Feind einzustürmen. Ist der Hund groß und hartnäckig, so vereinigen sich nicht selten mehrere Kühe, schließen einen Kreis um ihn und würden ihn unfehlbar tödten, wenn er nicht in der Flucht sein Heil suchte. Darum ist’s auch in den meisten Alpen streng verboten, Hunde mit hinauf zu bringen.

Wie eine gute Hausfrau stolz auf ihre glitzernde und blanke Küche, auf ihre gefüllten Linnenschränke und gute Ordnung im Hauswesen ist, so weiß sich der Aelpler etwas auf seine Käse. Der unglückliche Senn, welchem sie mißrathen, bleibt lange Gegenstand des Dorfgespöttes, und es gibt noch heutigen Tages Nachkommen von solchen, die den Uebernamen ihres Vaters oder gar des „Aehni“ (Großvaters) tragen müssen. Die Anerkennung, ein guter „Chäser“ zu sein, ist sogar (horribile dictu) von Einfluß bei Liebesverhältnissen. ’S Maiteli vermag’s nicht zu ertragen, wenn ihr Bub nicht für einen perfecten Sennen gilt, und manche „Brögglerin“ (d. h. Stolze) hat darum ihren Kiltgänger und Liebhaber schon verabschiedet, ungeachtet er wacker Batzen besaß. Es ist aber auch ganz erklärlich, wenn man in’s Auge faßt, welch’ bedeutender Handelsartikel der Käse für die Schweiz ist. jährlich werden für mehr als acht Millionen Franken Schweizerkäse in’s Ausland versandt, und der Gewinn von Milchproducten überhaupt, einschließlich des ungeheueren Consums in der Schweiz selbst, wird auf nahe an 100 Millionen Franken geschätzt. Die beliebtesten und gesuchtesten Sorten sind der großlöcherige, saftig-fette Emmenthaler und der noch etwas schärfere Greyerzer (fromage de Gruyère); beide Sorten werden in Laiben bis 120 Pfund Schwere gefertiget und jetzt in beinahe allen käseproducirenden Kantonen nachgeahmt. Fernere sehr geschätzte Käsesorten sind der Brienzer aus dem Berner Oberlande, dessen sich alle Sommerreisende gern erinnern, die am Gießbach oder in dem traulich gelegenen weißen Kreuz in Tracht übernachteten, dann der delicate weiche fette Urserenkäs, den man auf einer Gotthardsreise, besonders in Andermatt, vorgesetzt bekommt, der Strohkäse aus dem Val Lavizzara im Kanton Tessin, deshalb so genannt, weil er seiner Weichheit halber mit Stroh umwickelt versendet wird – der Tavetscher etc.

Wir kehren nochmals zum Aelpler zurück. Das geschäftige Einerlei, welches den Sennen in seiner sommerlichen Einsamkeit umfängt, wird in den größeren Alpen derjenigen Kantone, in denen ein frisches, lebensfröhliches Völklein wohnt, dennoch ein oder einige Mal unterbrochen; gewöhnlich gibt’s dann aber auch drastische Illustrationen zu dem alten Sprüchwort: „Keine Kirche, außer es steht ein Wirthshaus daneben.“ So auch hier an und auf den Alpenfesten. Wie es drunten im Thal jährlich einen Erinnerungstag gibt, an welchem des Ortes Kirche eingeweiht wurde, wie jedes Dorf in ganz Deutschland seine „Kirmse“ feiert, so gibt’s auch eine „Aelpler-Kilbe“. Das fromme Bedürfniß oder der hierarchische Glaubenseifer haben nämlich hier und da, tief drinnen im Gebirge, oft in abgelegener Felsenwildniß, Kapellchen erbaut, meist schmucklos und einfach, wie des Aelplers Hütte, in welchem allsommerlich ein Mal Gottesdienst gehalten wird. So ist’s in der Sennhütten-Colonie St. Martin im Kalfeuserthale, so auf der größten und schönsten Alp der Schweiz, dem Urnerboden am Klausenpaß, so im romantisch gelegenen Wildkirchli unter der Ebenalp in den Appenzeller Bergen, und an andern Orten. Da wallfahrtet denn das Volk zu hellen Haufen, namentlich die Weiber und Mädchen der droben wirthschaftenden Sennen, im bunten „Sonntigshäs“ (Sonntagskleid) hinauf, das Alpenröslein auf dem Hut. Der Geistliche, meist ein Kapuziner, hält Predigt und Messe, gibt der Alp oder auch dem Vieh seine Benediction, und damit ist dem Seelenheil für diesen Tag Genüge geleistet. Nun treten die irdischen und profanen Interessen in den Vordergrund, und da entwickelt sich denn in der Regel ein Volksfest, so kernig und urwüchsig, wie man es eben nur bei einem Volke erwarten darf, das in seinem Anschauen, Auffassen und Denken, in seinen Zuständen, Sitten und Gebräuchen innig verwachsen ist mit der erhabenen Gebirgswelt, welche es umgibt. Das ist ganz anders als da drunten im geradlinigen Flachland bei den zahmen, civilen, abgeschliffenen, vercultivirten Menschen, – etwa so ein Verhältniß wie ein Dürer’scher Holzschnitt gegenüber einem englischen Maschinen-Stahlstich. Hei! ist das ein reiches, farbiges, lebensheiteres Bild, solch’ eine „Alpstoberta“, solch’ ein Schwingfest und Steinstoßen! wie prägt sich da Selbstständigkeit, Kraft und Freiheit aus, wie schleudert da der Uebermuth seine leuchtendsten Funken empor, wie wirbelt und ringt und jauchzt und johlt da Alles durcheinander und scheint unergründlich und unverwüstlich in seinem Humor zu sein! Freilich fehlt’s nicht an Späßen, die, mit der Schrotsäge des Volkswitzes zugeschnitten, ebenso derb erwidert werden, als sie gegeben wurden; aber nie überschreiten sie jene Grenzlinie, jenseits welcher das Verwerfliche, Gemeine liegt. – Nach Inhalt, Form und Zweck weichen diese Aelplerfeste in den verschiedenen Alpengegenden wesentlich von einander ab.

Eine Appenzeller Alpstubete ist vorherrschend ein Sang- und Tanz-Vergnügen und entspricht ganz dem neckisch-jovialen Wesen dieses Volkes. Auf grüner ebener Matte ist irgend ein Emporium etablirt, auf dem ein Geiger steht; damit die sengenden Sonnenstrahlen ihn bei seiner ohnehin schweißtreibenden Kunst nicht allzusehr erhitzen, hat er an langer Stange einen großen rothbaumwollenen Familien-Regenschirm aufgespannt, in dessen Schatten er rastlos arbeitet. Ihn accompagnirt ein sitzender Hackbretspieler, der mit beiden Füßen obligate Pedalbegleitung trampelt, um des fehlenden Basses Grundgewalt zur Festhaltung der Tactes zu ersetzen. Um dieses improvisirte Orchester, dessen hüpfende und zuckende Melodieen-Wellen weithin hörbar erklingen, wogt und wirbelt die sinnenberauschte Tänzerschaar; jede kurze Pause wird ausgefüllt durch das fleißig credenzte Glas mit feurigem Oberländer oder gutem alten Rheinthaler Wein. Währenddem vergnügt sich eine andere Schaar rüstiger muskulöser Burschen mit „Steinstoßen“, oder die vom Tanze rastenden Mädchen singen ihre wunderbar schönen dreistimmigen Lieder, die erst durch die wiederklingende Resonanz der umliegenden Felsenwände jenen eigenthümlichen Schmelz erhalten, auf den sie so ganz berechnet zu sein scheinen. – Ganz anders erlustiget sich der Unterwaldner, der Emmenthaler, Entlebucher und Berner Oberländer Bergsohn; ihm sind gymnastische Spiele, die Probe körperlicher Stärke und Gewandtheit im Ringen und Schwingen das höchste Ideal alpiner geselliger Freuden. Es gibt Schwingtage in den verschiedenen Gauen, die so fest stehen wie irgend ein Heiligentag im Kalender, vererbt aus altersgrauen Zeiten. Aber es werden auch außerordentliche „Schwinget“ ausgeschrieben; solche Nachricht eilt dann, gleich einem Hochwachtfeuer, von einem Ende des Landes zum anderen. Die geübten Schwinger laben sich dann einige Wochen vorher an kräftiger, nahrhafter Kost, leben gemächlicher und bereiten sich auf den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_061.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)