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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Er hatte endlich alle Küsten gesehen und besaß Güter an allen Küsten und nach dem Friedensschlusse von 1815 war er Unterthan Frankreichs, Englands, Hollands, Portugals, je nach den Küsten, auf denen seine Besitzungen lagen. Diese und die Geschäfte, welche die Regierungsveränderungen in den verschiedenen Colonien nothwendig machten, hielten ihn noch mehrere Jahre nach dem Friedensschlusse in der Fremde. Endlich bemannte er einen prächtigen Dreimaster, belud ihn mit den Kostbarkeiten der reichsten Länder des Erdballs und segelte froh, aber bald funfzig Jahre alt, nach Frankreich zurück, durch die Straße von Gibraltar, in den Golf von Lion, in den Hafen von Marseille.

Kein seidener Mantel kam ihm entgegen; die Besten und Reichsten trugen tuchene Röcke oder Fracks und einen schwarzen Cylinderhut auf dem Kopfe; der große, schöne Platz mit den Linden und Akazien war fast verschwunden; allerlei Gebäude erfüllten ihn; die Buden der Limonadièren und der Eisverkäuferinnen waren dahin. Herr Jacques Atron schloß die Augen und wollte nicht glauben, was er gesehen. Er ging in’s Gasthaus, ließ den Schneider kommen und bestellte ein seidenes Mäntelchen mit sammetnen Schleifen auf der Schulter und einen ganzen Anzug, wie man ihn vor vierzig Jahren getragen. Der Schneider glaubte, es handle sich um eine Maskerade, und da der fremde Herr gut zu zahlen versprach, beeilte er sich und machte die Sache vortrefflich. Bis der Anzug ankam, blieb Herr Jacques Atron auf seiner Stube. Dann ließ er sich pudern, kleidete sich an und als es Abend wurde, ging er auf den Platz am Hafen, um sich unter die Herren zu mischen und den Damen den Hof zu machen, wie er es sich durch ungefähr vierzig Jahre versprochen hatte.

Auf der Straße liefen ihm die Gassenbuben nach und verhöhnten ihn; die Marseilleser sind sehr witzige Leute und machten viele Witze auf seine Kosten, und da die Marseilleser nicht leise sprechen können und selbst ihre Geheimnisse laut ausschreien, hörte er Alles. Das störte Herrn Jacques Atron nicht im Mindesten. Sein Traum, sein Lebenszweck, sein Ideal, das mehr als vierzig Jahre lang in ihm gewachsen und erstarkt war, war mächtiger als die Wirklichkeit, die ihn spottend umgab. Weiß der Himmel, was in ihm vorging! Er spazierte von einer Stelle zur andern, verneigte sich da, verneigte sich dort; lächelte, lispelte Worte der Liebe, der Galanterie, der Verführung, wie sie im gepuderten Jahrhunderte Mode gewesen und wie sie zum Puder in seinem Haar und zu seinem Mäntelchen paßten. So trieb er es durch mehrere Tage. Man fing an, ihn als einen Narren zu betrachten; man erkundigte sich nach ihm und erfuhr endlich seinen Namen, seine Abstammung, seine Schicksale. Da war Herr Jacques Atron mit einem Male von einer Schaar von Verwandten umgeben und unter diesen fanden sich mehrere sehr positive Neffen, Commis in Bank- und Handelshäusern. Diesen gelang es, ihn aus seinem Traume zu reißen, und dies um so leichter, als er, der alte Kaufmann, im Grunde selbst ein höchst positiver Geist und Charakter geworden, den eine phantastische Idee wohl eine Zeit lang besitzen, aber nicht verrückt machen konnte. Er gab am Ende seine Promenaden auf und öffnete die Augen für die Veränderungen, die unter der Zeit in Sitten, Trachten und Baulichkeiten von Marseille vorgekommen. Nur von seiner lieben Rococotracht, die er mit so vielen Kämpfen erobert, konnte er sich nicht trennen; er war ja unabhängig und reich, was kümmerte es ihn, daß man ihn seines seidenen Mäntelchens wegen verhöhnte! In seiner Tracht ging er selbst auf die Börse und suchte aus alter Gewohnheit Geschäfte zu machen. Das gefiel dem Handelsstande, da Herr Jacques Atron in Allem sehr billig und leicht zu behandeln war, und gefiel auch den Neffen, die mit Vergnügen sahen, wie der in einem Punkte verrückte Onkel in allen andern Punkten so gescheidt, durchtrieben und praktisch war, und wie er sein ohnehin schon ungeheueres Vermögen von Tag zu Tag vergrößerte. Er hatte ja keine Kinder; die Neffen waren seine natürlichen Erben. Am Ende fanden sie, daß ihm das Mäntelchen gut stehe, und schmeichelten seiner verrückten Idee.

Aber das übrige Marseille hatte nicht dasselbe Interesse, dem alten Jacques Atron zu schmeicheln; im Gegentheil war es froh, an einer Person seinen Witz auslassen zu können, und es ging durch mehrere Jahre, wie es am ersten Tage gegangen war. Dieser Umstand und der andere, daß er sich in dem modernen Marseille doch niemals heimisch fühlte, daß er dadurch nur an den verfehlten Lebenszweck erinnert wurde, bewog ihn endlich, seine Vaterstadt wieder zu verlassen, aber diesmal nicht, um wieder auf die hohe See zu gehen. Er siedelte nach Paris über, nach jener einzigen unter den Städten des Erdballs, wo man Jeden machen, leben und treiben läßt, was und wie es ihm gefällt. Er baute sich hinter der Madeleine jenes reiche, wenn auch kleine Rococohotel und richtete dasselbe und sich selbst so ein, wie er es vor 1789 in Marseille gethan haben würde. Dieser Uebersiedelung nach Paris danken wir es, daß wir ihn zu sehen bekommen und daß wir das Schicksal des alten Sonderlings kennen gelernt.

Heute ist Herr Jacques Atron todt; aber an seinen Tod knüpft sich noch eine psychologisch merkwürdige Geschichte, die wir gleich hier erzählen wollen.

Während seines Aufenthaltes in Marseille drängten sich, wie erwähnt; die erblustigen und praktischen Neffen, sämmtlich Namens Atron, um ihn und machten ihm so angelegentlich den Hof, als er dermaleinst den Damen auf dem großen Platze den Hof zu machen gewünscht hatte. Nur ein Neffe fehlte unter diesen Hofmachern. Dieser, Namens Gustav Atron, war der unpraktischste Mensch der Familie. Obwohl ein Marseiller, verschmähte er den Handel und den Geldgewinn und widmete sich den schönen Wissenschaften. Zur Zeit des Marseiller Aufenthaltes seines Onkels hatte er ein kleines Amt an der Stadtbibliothek, das ihm jährlich zwölfhundert Franken einbrachte. Mit dieser kleinen Summe lebte er sehr glücklich in einer Dachstube, und in der Dachstube wie auf der Stadtbibliothek machte er Verse. Er wurde in der Familie als ein Träumer geliebt und verachtet. Der Onkel bekam ihn zu selten zu Gesicht, als daß er ihn hätte lieben können, hörte aber genug von seinem unpraktischen Wesen, um ihn verachten zu können. „Verachten“ ist vielleicht ein zu starker Ausdruck; so viel ist gewiß, daß er ihn gering achtete und daß er auf die ganze literarische Laufbahn, die Gustav erwählt, auf sein Versemachen, auf seine Bibliothek und auf Alles, was er trieb, als auf etwas höchst Unzweckmäßiges herabsah. Obwohl selber in Beziehung auf sein seidenes Mäntelchen und die guten alten Zeiten ein Phantast, haßte er doch Alles, was er und was die Leute sonst Phantasterei nennen. Gustav ließ sich aber noch mancherlei Phantastereien zu Schulden kommen. Zu diesen gehörte seine Liebe zu der reizendsten und reichsten Frau Marseilles, einer in dieser Stadt geborenen Engländerin, die nun an den englischen Consul Mstr. Morston, einen gewiegten Pfundmillionär, verheirathet war. Mstrs. Morston, die eben so gebildet und geistvoll als schön und anmuthig war, fühlte in der ausschließlichen Handelsstadt das Bedürfniß, sich mit einem Kreise zu umgeben, der von etwas Anderem als von Zucker- und Kaffeepreisen zu sprechen wüßte, und Gustav Atron, der kleine Beamte mit zwölfhundert Francs Gehalt, gehörte zu den intimsten Hausfreunden des siebenfachen Millionärs Morston. Da beging er die Phantasterei, sich in diese liebreizende Frau, die, trotzdem sie Bücher las und mit den bedeutendsten Geistern Frankreichs und Englands in Verbindung stand, nichts vom Blaustrumpf hatte, auf das Innigste zu verlieben. Mstrs. Morston war edel und tugendhaft, und man vergab ihm deshalb diese Phantasterei um so weniger. Er aber war in dieser Liebe, in seinen Versen, in seiner Dachstube und in seinen zwölfhundert Franken so glücklich, daß er sich um alle Verspottung beinahe eben so wenig kümmerte, als um seinen reichen Onkel.

Da hatte Gustav Atron eines Tages ein Trauerspiel in Versen „die Tochter des Aristides“ vollendet. Es gefiel der geliebten Frau; er hatte das Bedürfniß, als ein berühmter Mann vor ihr zu stehen. Aber in Frankreich kann man nur mit Hülfe von Paris zu Ruhm gelangen. Das Trauerspiel mußte, wenn es ihm einigen Namen machen sollte, nothwendigerweise in Paris aufgeführt und gelobt werden. Aber wie nach Paris kommen? wie in dieser Stadt so lange leben, bis die Aufführung durchgesetzt ist? Hélas! von seinen zwölfhundert Franken konnte er nicht so viel ersparen, um diese Kosten bestreiten zu können.

Da mußte denn doch der Onkel dran. Der Onkel sollte ihm die Summe leihen. Der Schritt kostete ihn zwar einige Ueberwindung, aber er war seines Erfolges in Paris so gewiß, daß er eine Verkennung von einigen Monaten auf sich nahm. Er wußte, er werde das Anlehen zurückerstatten.

So trat er denn vor den alten Herrn Jacques Atron. „Onkel, seien Sie so gütig und leihen Sie mir fünfzehnhundert Franken. Ich muß nothwendigerweise nach Paris, um mein Trauerspiel aufführen zu lassen. Es wird mir mehrere tausend Franken einbringen, und ich werde Ihnen das Geld mit herzlichem Danke wiedererstatten.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 766. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_766.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2023)