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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Gleichzeitig trat der Marchese an den Wankenden, der Deckel des Kästchens mit der Krone sprang auf, und da, wo sonst der Schmuck gelegen hatte, befanden sich jetzt zwei Paar glänzende Handfesseln von Stahl …

Aurelio zuckte zusammen. Seine ausgestreckte Hand erfaßte den Deckel und drückte ihn wieder zu, ehe noch Einer der Anwesenden den Inhalt des Kästchens erblicken konnte. Dann ward er bleich, röchelte und sank unter krampfhaftem Zittern auf den nächsten Stuhl.

Der Domcapitular stand neben ihm. Noch einmal schlug er das Auge auf und flüsternd vernahm Rosaura’s Oheim von dem Sterbenden die Worte:

„Ich habe … gefehlt! … Der Marchese … der illegitime Erbe des Fürstenthrones von O* verleitete mich … Rosaura … darf nichts erfahren … …“

Nach einigen Athemzügen war Aurelio eine Leiche.

Marchese Oruna ward ohne Aufsehen abgeführt durch das sichere Geleit, das seiner in den Vorzimmern harrte. Die übrigen Anwesenden waren zu sehr bestürzt, um sich den innern Zusammenhang des Geschehenen erklären zu können. … Es hieß allgemein, Graf von Weckhausen sei vor Schreck am Schlage gestorben. Man sagte, ein Todtenkopf mit brillantenem Schmuck habe in dem Kästchen gelegen, und Kopf und Schmuck habe der Graf gekannt …

Von Marchese Oruna hörte man nichts mehr. Aurelio ward ohne Gepränge beerdigt und Rosaura reiste wenige Tage später in Begleitung ihres Oheims in’s Ausland.




Das vergessene Kind Frankreichs.

Eine der interessantesten Erscheinungen in dem Kreise der Napoleoniden, jenes von der Vorsehung wunderbar geführten Geschlechtes, ist unstreitig der Sohn Napoleons, der Herzog von Reichstadt, weniger hervorragend durch seine Thaten, als durch seine Leiden.

Nachdem sich Napoleon von seiner ersten Gemahlin, der liebenswürdigen Josephine, geschieden hatte, weil sie ihm keine Nachkommen geschenkt, warb er um die Hand der österreichischen Kaiserstochter. Marie Louise, die Enkelin der alten Habsburger, reichte aus politischen Gründen dem korsischen Emporkömmling die Hand und schenkte ihm am zwanzigsten Mai 1811 den heiß ersehnten Thronfolger, welcher in der Wiege schon „König von Rom“ genannt wurde. Durch die Geburt eines Sohnes glaubte der ehrgeizige Weltbeherrscher seine Dynastie für immer gesichert; er liebte dieses Kind seiner Hoffnungen, dem er sein ungeheures Reich, seine Pläne, seinen Namen einst zu vererben gedachte. Durch die russische Katastrophe und die darauf folgenden Niederlagen wurde Napoleon gezwungen, abzudanken, für sich und seinen Sohn auf den Thron Frankreichs zu verzichten. Die Insel Elba wurde ihm zum Verbannungsorte angewiesen; seine Gattin und sein Kind kehrten nach Oesterreich zurück, wo sie in Schönbrunn unter dem Schutze des Kaisers Franz verweilten. Durch den Vertrag von Fontainebleau war Marie Louise Herzogin von Parma geworden, ihr Sohn zu einem Prinzen degradirt.

Aber Napoleon landete bald wieder an der Küste von Frankreich, wo er mit offenen Armen empfangen wurde; er verjagte die durch die verbündeten Mächte eingesetzten und darum ihrem Volke verhaßten Bourbonen. Vergebens forderte er seine Gemahlin und seinen Sohn von Oesterreich zurück; sie wurden ihm vorenthalten. Ein Versuch, den König von Rom zu entführen und seinem Vater wiederzugeben, scheiterte an der Wachsamkeit der Wiener Polizei. Marie Louise sagte sich feierlich in einer offenen Erklärung von ihrem Gatten los und stellte sich unter den Schutz ihres Vaters und seiner Alliirten, welche Napoleon geächtet hatten. Zum zweiten Male wurde dieser bei Waterloo geschlagen, sein Heer vernichtet und er selbst nach St. Helena als Gefangener gebracht, wo er am fünften Mai 1821 an gebrochenem Herzen starb.

Unter der Obhut seines Großvaters wuchs indeß der Knabe auf, sein jugendliches Herz bewahrte die Erinnerungen einer glänzenden Vergangenheit, trotzdem seine ganze Erziehung darauf gerichtet war, ihm Vergessenheit zu lehren. Er mußte seinen Namen „Napoleon“ mit dem ihm verhaßten „Franz“ vertauschen, auf das Erbe seiner Mutter verzichten. Vaterlos und namenlos ertheilte ihm der Kaiser Franz den Titel eines Herzogs von Reichstadt.

Der Sohn Napoleon’s war ein schönes Kind mit blonden Haaren und blauen Augen, der seinem Großoheim, Joseph dem Zweiten, ähnlich sah. Das Unglück hatte ihn früh reif gemacht und seine geistigen Fähigkeiten schnell entwickelt, er beobachtete scharf und mißtraute seiner Umgebung; zeitig lernte er die Kunst, seine Gedanken zu verbergen und seine Empfindungen zu verheimlichen. Trotz der Liebe seines Großvaters fühlte er sich fremd am Wiener Hofe; er stand allein; seine Mutter hatte ihn verlassen, um sich nach Parma zu begeben, wo sie sich im Geheimen mit dem österreichischen General Neipperg vermählte.

Der bekannte Metternich leitete auf Wunsch des Kaisers Franz die Erziehung des Herzogs von Reichstadt; der gewandte Diplomat unterrichtete ihn in der Geschichte und den Staatswissenschaften. Doch am entschiedensten sprach sich in dem Sohne Napoleon’s wie in seinem Vater die Vorliebe für Mathematik und alle kriegerischen Kenntnisse aus. Als Kind schon spielte er am liebsten mit seinen Bleisoldaten, als Knabe war er stolz auf seine Uniform, als Jüngling studirte er die Werke und Biographien der berühmtesten Heerführer. Die Helden des Plutarch waren seine Lieblinge, doch vor Allen der kühne Hannibal, dessen Thaten, Schicksal und Genie ihn an seinen großen Erzeuger erinnerten.

Napoleon war der Mittelpunkt, um den sich alle seine Gedanken, seine Erinnerungen drehten, und je geflissentlicher seine Umgebung ihm die Wahrheit zu verbergen suchte, desto emsiger spürte er derselben nach, bis Kaiser Franz dem Drange seines Enkelsohns nachzugeben sich gezwungen sah.

„Ich wünsche,“ sagte derselbe zum Fürsten Metternich, „daß der Herzog das Andenken seines Vaters ehre, daß er dessen große Eigenschaften sich zum Beispiel nehme, und daß er dessen Fehler erkennen lerne, um sie zu vermeiden und vor ihrem verderblichen Einflusse sich zu wahren. Sprechen Sie zu dem Prinzen, was seinen Vater betrifft, wie Sie wünschen würden, daß man von Ihnen vor Ihrem eigenen Sohne spräche.“

Die Wahrheit machte den Herzog von Reichstadt still und in sich gekehrt; er wurde ruhiger, aber im Geheimen nährte sein hochstrebender Geist sicher Hoffnungen und Träume, die er nicht offen auszusprechen wagte. Trotz seiner natürlichen Vorsicht ließ er häufig in seiner Unterhaltung den Glauben an einen großen, geschichtlichen Beruf hindurchschimmern. Seine Seele schwankte wie ein Rohr im Winde zwischen ehrgeizigen Gelüsten und wehmüthiger Resignation, zwischen seinen neuen Pflichten und den alten Erinnerungen. Er verzehrte sich in trauriger Sehnsucht und bangen Erwartungen. Mitten in den glänzenden Hoffesten stand ein bleicher Jüngling von hohem Wuchse, meist abgesondert von der übrigen Gesellschaft, dessen schöne, melancholische Züge besonders den mitleidigen Herzen der Frauen ein tiefes Interesse abgewannen. Nur selten mischte er sich in das laute Gespräch; denn er wußte sich beobachtet, von Spähern umringt. Er kam sich unwillkürlich wie ein Gefangener vor, obgleich sein Großvater und die ganze kaiserliche Familie es nicht an Beweisen ihrer Liebe fehlen ließ. Aber weder er, noch sie konnten je vergessen, daß er der Sohn Napoleon’s, der Erbe seines Vaters war.

Er blieb ein Gegenstand ihrer Furcht und Besorgniß. Nur einen Freund hatte er gefunden, vor dem sich zuweilen seine Seele erschloß; es war dies der Oberst-Lieutenant Prokesch von Osten, welcher, eben von einer Reise aus dem Orient zurückgekehrt, die Neigung des Herzogs durch einen Aufsatz gewonnen hatte, worin er Napoleon Gerechtigkeit widerfahren ließ. Ihm vertraute der Jüngling seine Klagen, seine Hoffnungen an, von ihm forderte er Rath und Belehrung in seiner drückenden Lage. Der treue Freund mahnte ihn, dem hohen Beispiele eines Eugen von Savoyen nachzustreben und sein Talent in dem Dienste Oesterreichs zu nutzen. Der Herzog von Reichstadt antwortete ihm ausweichend, indem er die Rolle eines Eugen wenigstens indirect ablehnte. Aber eben so wenig wollte er als Abenteurer nach Frankreich zurückkehren und sich zu einem Spielballe des Liberalismus hergeben, den er wie Napoleon verabscheute.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 760. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_760.jpg&oldid=- (Version vom 30.11.2023)