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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

beschloß ich, mich in Sicherheit zu bringen, ehe die Nacht hereinbreche. Mein guter oder böser Stern führte mich zu einem gewaltigen Weidenbaum, dessen Krone eben über dem Wasserspiegel hervorragte; ich hielt mich an den Aesten fest, und nach vielen vergeblichen Versuchen glückte es mir, einen derselben durch den Ring meines Fahrzeugs zu ziehen und so vor Anker zu gehen. Nachdem ich dasselbe nach Kräften befestigt, schwang ich mich in die Baumwipfel und richtete mich da häuslich ein. Ich muß sagen, ich habe schon besseres Nachtquartier gehabt, meine armen Glieder thaten mir am Morgen so weh, daß das Stehen auf den Aesten, wie ein Kranich, eine wahre Erleichterung war. Neuer Schrecken – das Tageslicht zeigte mir meine Duschakupka verschwunden, das Wasser war um mehrere Arschinen gestiegen, und ich saß auf dem Baume. Herunter konnte ich nicht, denn ich schwimme wie eine bleierne Ente, auf Erlösung durfte ich in dieser Wildniß nicht rechnen, nur im Verlaufen des Wassers war Rettung. Also abwarten! Aber das war schwer. Was soll ich’s weiter ausmalen? Drei Nächte und zwei Tage hatte ich schon auf dem verfluchten Baume – ich habe ihn mittlerweile abgehackt! – zugebracht, der Hunger quälte mich furchtbar, der Schnaps war alle, es begannen vor meinen Augen rothe Feuerringe zu kreisen, ein unüberwindlicher Schwindel befiel mich, es war, als flüstere mir ein heißer Athem in’s Ohr: Wirf Dich hinab, dann ist’s vorbei! Da auf einmal klang es, wie eine ferne Menschenstimme – gewaltsam riß ich mich empor – ja, ja, ein helles Lied scholl über’s Wasser. Hülfe, hierher, Hülfe! brüllte ich, wie ein geschundener Wolf – das Liedlein schwieg, ein Ruf gab Antwort, und gleich darauf trat eine breite Lodka (Boot) voll Heu zwischen die Bäume, gerudert von einer strammen Dirne, die verwundert nach dem Vogel umschaute, der so laut sich kundgethan hatte. Als sie mich sah, fing sie an zu lachen, daß sie auf’s Heu fiel, aber in demselben Augenblick lag ich auch neben ihr und regte mich nicht mehr. Erschrocken fuhr sie hurtig davon, – sie hielt mich für todt und gestand später, daß sie unterwegs nicht übel Lust gehabt habe, den ungebetenen Gast auszuladen; allein der Himmel gab ihr bessere Gedanken ein und so brachte sie mich glücklich nach Kaprilowka vor und in das Haus ihrer Mutter. Hier lag ich ein paar Tage im Fieber – ich konnte gar nicht von dem verwünschten Baum herunter kommen! – die guten Seelen pflegten mich liebreich – und so hat sich’s gemacht!“

„Aber, Lehmann,“ fragte der Gutsherr, „habt Ihr es denn niemals bereut? Ihr, ein gebildeter Mann, ein Ausländer, ein Schriftgelehrter, und ein kleinrussisches Bauermädel? Wie klappte denn das zusammen?“

„Es ging!“ erwiderte der Schatzgräber, „was das Eine zu wenig hatte, hatte das Andere genugsam, das gibt die besten Ehen. Meine Warinka war ein hübsches, gutes Kind; sie braute ihren Quaß und kochte ihren Borscht, trotz Einer, und dann“ – fügte er heimlich hinzu – „sie war ein Sonntagskind. Geboren Schlag zwölf Uhr Mittags am heiligen Lichtmeßtag. Sie sah mehr, wie die Andern. Aber ich darf’s nicht sagen. Und die Mutter, die alte Mariwan, das war eine kluge Frau, konnte das Feuer besprechen, Menschen und Vieh curiren, und sonst noch Vieles. Ich habe Manches von ihr gelernt. Nein, nein, bereut hab’ ich’s niemals!“

„Nun, dann ist der Weidenbaum doch dein Glück gewesen, Schatzgräber,“ sagte der Onkel.

Nach einem herzlichen Abschied von dem sonderbaren Einsiedler ritten wir weiter durch Wiesen und Wald. Ein paar Mal ward noch die Jagd versucht, aber ohne andere Ausbeute, als einen hübschen Sperber, den ich erlegte, um nur etwas geschossen zu haben. Allmählich neigte sich die Sonne zum Untergang, wir trabten auf dem Heimweg. Plötzlich gab unsere Amazone ihrem Tscherkessen die Peitsche und stob vor uns dahin, wie eine Windsbraut; in wenigen Augenblicken war sie uns aus dem Gesicht. In der Erwartung, sie werde ihr Pferd nur eine Strecke weit ausgreifen lassen, beeilten wir uns nicht besonders, sie einzuholen. Allein sie war und blieb verschwunden, wie weiter und schneller wir auch ritten. Es begann schon zu dunkeln, unsere lauten Rufe hallten durch die Waldung – keine Antwort! Eine eigenthümliche Unruhe überkam uns Alle.

„Sie hat sich verirrt!“ rief der Onkel, „die vielen Flüsse – die Nacht – es muß etwas geschehen!“

„Ganz recht,“ entgegnete sein Neffe, „reite Du im Galopp gerade aus, Sie aber“ – zu mir gewendet – „schlagen diesen Pfad links ein, er führt direct zur Fähre und nach Gruschewka, ich mit dem Reitknecht wende mich rechts, um ihn draußen in die Dörfer zu senden – auf der Steppe treffen wir uns wieder; wer sie findet, feuert die Flinte ab!“ Und dahin sprengten Alle nach verschiedenen Richtungen, ich war allein in der doppelten Nacht des Urwalds.

Unvergeßlich wird mir dieser Ritt sein. Mein Pferd überließ ich ganz sich selbst, es wußte jedenfalls besseren Bescheid, als ich. In dem falben Zwielicht, das der aufgehende Vollmond durch die Wipfel warf, zeichneten sich die seltsamen Stämme der Bäume in den phantastischsten Gestalten viel schroffer, als bei Tageslicht, unheimlich rauschte der Nachtwind im Laub, Fledermäuse schwirrten dicht umher, und schauerlich klang der tiefe Schrei der Uhus durch den Wald. Da und dort flimmerte faulendes Holz mit bläulichem Schein, große Nachtfalter flogen mir in’s Gesicht, zwischen dem Röhricht blinkten mondbeschienene Lagunen hervor, wie Riesengespenster standen die grauen Weiden darin. Und plötzlich stieg ein Irrwisch vor mir auf. Ich hatte noch keinen gesehen, glaubte nicht einmal an die Existenz dieser Sumpfphantome – aber dort, vor mir, tanzte wahrhaftig ein helles Lichtlein. Unwillkürlich zog ich die Zügel an. In demselben Augenblick bellte ein Hund und eine laute barsche Stimme rief gut deutsch: „Wer da?“ „Gut Freund!“ gab ich reglementsmäßig zur Antwort; sogleich erschien ein weiter heller Kreis auf dem Pfad und in dessen Mittelpunkt die auffallende Gestalt des Schatzgräbers mit seinem Spaten und seinem Hund. „Wie kommen Sie hierher?“ fuhr er mich ganz verdrießlich an. Mit wenigen Worten erklärte ich ihm die Sache; er schien sehr unwirsch. „Nur gerade aus! Sie sind auf dem rechten Wege!“ rief er und drehte sich um; als hätte ihn die Erde verschluckt, war er sammt seiner Laterne verschwunden. Nach einem Paar hundert Schritten gelangte ich auch auf die freie Steppe. Gleich darauf fiel ein Schuß, dann noch einer, ich gab dieselbe Antwort, und ein Reiter sprengte gegen mich an. „Gefunden?“ fragte ich. „Gefunden!“ antwortete der Gastfreund, „Soninka ist längst zu Hause, jetzt waren Sie es, der uns Sorge machte. Aber nunmehr lassen Sie Ihren Klepper die Eisen fühlen!“

Wie wohl that der helle Glanz des Speisesaals und der Anblick der langen, gedeckten Tafel den ermüdeten Urwaldpionieren! Alle Magenfreuden der Steppe und des Südens standen in reicher Fülle aufgetischt, Haselhühner und Wachteln, Trauben und Arbusen, kühlende Badwinia (Fischsuppe) und dampfender Borscht, Boklaschani und Sterlet, und wie die Herrlichkeiten alle heißen mögen, nicht zu vergessen den feurigen Zarski Riesling der Krim in Eis. „Es ist recht romantisch draußen in den Plawni,“ sagte der Onkel, „aber ich lobe mir doch die Civilisation!“

Die rasche Flucht unserer holden Amazone, über welche sie bei der Tafel manch’ anzügliches Wörtchen hatte hören müssen, ohne viel darauf zu antworten, wurde erst nach derselben erklärt. Denn da wurden wir Alle hinausgedrängt aus dem Saale in ein Nebenzimmer, es galt eine Ueberraschung. Und die war es. Als wir wiederum herein gelassen worden, hatte sich der Salon zur Hälfte in ein Theater verwandelt; eine vierhändig gespielte Ouvertüre empfing uns, dann rauschte der Vorhang auseinander. Körners Nachtwächter wurde gegeben, und zwar so gegeben, wie man ihn schwerlich je gesehen hat oder sehen wird. Denn die Schauspieler waren lauter Mädchen, und zwar schöne, holde, und sie spielten natürlich zum Entzücken. Soninka als Tobias Schwalbe hätte des reizenden Röschens Abneigung gegen den ehrlichen Nachtwächter unbegreiflich erscheinen lassen, wenn die beiden Studenten, Herr Ernst Wachtel (Lysinka) und Herr Karl Zeisig (Lotti) nicht gar so allerliebst gewesen wären mit ihren zierlichen Schnurrbärtchen, und dabei so ernst, so tief im Geist ihrer geistreichen Rollen! Und als zuletzt der liebenswürdige Nachtwächter hoch auf dem mächtigen Ofen saß, der das Brunnenhäuschen vorstellte, und verzweifelnd herunter tutete, und die schönere Hälfte der Zuschauer sich plötzlich in das Chor der Nachbarn verwandelte – wer hätte da nicht lachen müssen bis zu Thränen? Prächtig war der Abend oder vielmehr die Nacht, die dem schönen Tage folgte; alle Müdigkeit war vergessen, nach dem Schlusse des Schauspiels wurde noch lustig getanzt zu dem Piano, schon zehnmal hatte die würdige Mutter gesagt: „Kinder, nun ist’s genug!“ Aber endlich hat Alles ein Ende. – Man weiß auch in der Steppe zu leben, besonders die Deutschen!



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