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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

der große Philosoph einen neuen Flug seines Idealismus beginnt,“ erwiderte Adam. „War schon sein vor zwei Jahren erschienenes „System der Sittenlehre“ ein großer Wurf in der Erweiterung der Kant’schen Lehre, so sehen wir den deutschen Denker in dem neuesten Buche dem scheidenden Jahrhundert einen prächtigen Schlußstein setzen. Kant und Fichte haben im Laufe der letzten Decennien große Würfe gethan.“

„Es ist ein köstliches Zusammentreffen,“ sprach nun Hans, nach seiner Art anmuthig lächelnd, „und es wäre ein Frevel an der Weltvernunft, die sich uns immer erhabner kund geben will, es einen Zufall zu nennen, daß ich, da ihr so prächtige Würfe in Poesie und Philosophie zum Schluß des Jahrhunderts beizubringen im Stande seid, meinerseits in den Naturwissenschaften ein Gleiches vermag. Vor wenigen Monaten ist auf meinem Felde ein großer, ein gewaltiger Wurf geschehen, welcher der Zukunft Früchte bringen wird, deren Herrlichkeit wir kaum zu ahnen vermögen. Der berühmte italienische Physiker Alessandro Volta hat in diesem Jahre einen aus verschiedenen Metallen zusammengesetzten Apparat, eine Säule, erfunden, welche die von Galvani entdeckte Modalität der Elektricität auf überraschende Weise zur Erscheinung bringt. Ich vermuthe mit gutem Grunde, daß diese Säule der gewaltigste Denkstein des scheidenden und der großartigste geistige Sonnenzeiger des neuen Jahrhunderts werden wird. Wie die Pyramide des Cheops wird sie, der Verbindungsstein zweier großen Jahrhunderte, ihren geheimnißvollen Schatten über die kommenden Jahrhunderte hin dehnen, zugleich Sonnenuhr und Meilenzeiger des strebenden Menschengeistes.“

„Also allen Söhnen dieses Jahrhunderts, denen ein großer Wurf gelungen! Zuerst denen, die schon von der Lebensbühne abgetreten sind!“

„Und denen, die mit uns in das neue Jahrhundert hinübertreten: Goethe und Schiller!“

„Kant, der ehrwürdige Greis, und Fichte!“

„Volta, Brown, der kühnstrebende Mediciner!“

„Es ist gleich Mitternacht!“ rief Sophie.

Die Jünglinge erhoben sich.

„Es ist ein hochernster heiliger Augenblick!“ rief Adam glühend. „Das alte Jahrhundert versinkt, das neue steigt herauf!“

In diesem Augenblick begann die Schloßuhr die zwölfte Stunde zu schlagen. Vom königlichen Residenzschlosse in Kopenhagen blitzte ein Feuerschein herüber. Donnerhall folgte. Das neue Jahrhundert wurde mit hundert Kanonenschüssen begrüßt. Alle Glocken der Hauptstadt begannen ihr weit hallendes Läuten. Die vier Versammelten blickten in feierlicher Stille nach der Königsstadt. Die Uhr hatte ausgeschlagen.

„Sei uns willkommen! sei uns gegrüßt, Genius des neunzehnten Jahrhunderts, Genius der Neuzeit!“ rief Adam in hoher Begeisterung. „Segne uns und alle Strebenden! Stürze den Aberglauben, erhelle die Nacht der Geister! Bekämpfe die Selbstsucht und breite den Morgenrothglanz der Liebe über deine Geschlechter! Ueberwache die Welt mit dem sänftigenden verklärenden Hauche der Poesie!“

„Entzünde die Geister, daß sie denken!“ fuhr Anders fort. „Setze die Vernunft auf den ihr gebührenden Thron! Der entfesselte Gedanke befreie die noch in Banden liegende Welt! Lernt denken und euere Vernunft gebrauchen, ihr Geschlechter des neuen Jahrhunderts, und ihr werdet frei und glücklich sein!“

„Eure Wünsche und Acclamationen sind schön und gerecht,“ sagte Hans. „Aber vor Allem ist zu wünschen, daß die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts eine richtige Einsicht in das Wesen der Natur gewinnen und ihre Kräfte und Gesetze mit treuem redlichen Eifer erforschen und zu ihrem Heil benutzen. Ihr wünschet, daß Poesie und Philosophie sich mehr und mehr ausbreiten auf der Erde, d. h. daß Gefühl und Verstand, die beiden Pole des Menschengeistes, mehr cultivirt werden. Aus ihnen hat sich seit den ältesten Zeiten die Religion entwickelt. Unvollkommene Cultur des Gefühls und des Verstandes führte zu jenen Religionen voll Fabeln und Wundern, die zwar poetisch, wie alle kindlichen Anschauungen, aber dem reifer gewordenen Geist ungenügend sind. Die wahre Bildung des Gefühls und des Verstandes kann nur durch die Erleuchtung der Vernunft als der höchsten Geisteskraft gewonnen werden, und das Licht dieser Erleuchtung kann allein durch Erforschung der Natur entzündet und genährt werden. Je weiter wir in die Tiefe und Höhe der Natur forschend und erkennend vordringen, desto mehr wird jene Poesie des Aberglaubens verschwinden, die leider noch von unzähligen Herzen als ein höchstes Gut festgehalten wird, desto logischer werden wir denken lernen, die Gesetze des Denkens erkennen und festhalten und uns von jenen Schwankungen und Trugschlüssen befreien, die noch in so vielen Köpfen spuken, desto reiner, erhabener und der aus der Natur als dem ewigen Vernunftreich erkannten Gottheit würdiger wird also unsere Religion sein. Das ist die Aufgabe des neuen Jahrhunderts, daß es die Natur erforsche und ihre Kräfte und Gesetze erkenne, daß es dann auf dieses Wissen eine richtige Philosophie baue, und daß sich endlich als drittes und letztes Glied der neuen Dreieinigkeit eine würdige Poesie entwickle, die wie der Glanz und Duft einer schönen Abendbeleuchtung verklärend über der Welt leuchte. Nicht Fabeln und Märchen auszuschmücken kann ferner die Aufgabe der Poesie sein, nicht in dialektischen Kunststückchen und sophistischen Grübeleien seiltänzerisch herumspringen, die Aufgabe der Philosophie. Vielmehr soll sie die Resultate der Naturforschung mit den Denkgesetzen des Geistes in Einklang bringen und die Poesie dann die also gewonnene Wahrheit mit ihren prächtigen Tinten übergießen. Und aus der innigen Verschmelzung dieser Drei steige die Religion als das Liebesband zwischen Gott und der Welt empor!“

„Und nun seht, meine Lieben, wie wir hier so überraschend schön und charakteristisch versammelt sind! Ich als der Aeltere vertrete, wenn auch herzlich schwach, die Naturwissenschaften, Anders als der ein Jahr Jüngere die Philosophie, und Adam als der wiederum ein Jahr Jüngere die Poesie. Und so laßt uns in brüderlicher Umarmung das neue Jahrhundert mit dem Zurufe begrüßen: Gib uns Kraft! Gib uns Wahrheit! Gib uns Schönheit! Und aus diesen Dreien laß uns Gottbegeisterung erblühen!“

„Amen!“ riefen die Andern und umschlangen und küßten sich, und Sophie flüsterte ein stilles Gebet über sie hin.

„So laßt uns den Rest unserer Bowle auf das Gedeihen derer leeren,“ nahm Adam wieder die Rede auf, „die im neuen Jahrhundert große Würfe in der Naturerkenntniß, in der Philosophie und Poesie zu thun vom Schicksal berufen sind! Mögen sie die Menschheit von den Fesseln des Wahns und Trugs befreien und Wahrheit und Schönheit durch sie zum vollsten Sieg gelangen, daß man heute über hundert Jahre beim Antritt des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Namen als Sterne hochpreise, wie wir heute die Glanznamen des achtzehnten Jahrhunderts hochgepriesen haben. Segen auf die kommenden Arbeiter im Weinberge des Herrn, denen ein großer Wurf gelingen wird!“

„Es wäre doch gar schön, wenn Einem von uns oder allen Dreien so etwas gelänge,“ sagte Anders. Aber fast erschrocken über die Kühnheit dieses Gedankens, setzte er hinzu: „Ich bin freilich nur ein schwacher Schüler Kant’s und Fichte’s; ich suche jetzt Staatsdienst und werde als Justizbeamter meine Pflicht thun, aber damit gelingt kein großer Wurf. Dazu gehören andere Kräfte, als die meinigen.“

„Und ich werde ein fleißiger Advocat werden, der dem Rechte redlich dient und zu seinem Vergnügen ein paar Verse macht,“ fuhr Adam kleinlaut fort. „Damit thut man auch keinen Wurf, der Erwähnung verdiente.“

„Wird es mir besser ergehen?“ lachte Hans. „Ich werde ein Apotheker bleiben, der ich schon bin. Ich werde Arzneien bereiten und dispensiren und in meinen Mußestunden etwas Physik, Astronomie und natürliche Religion treiben. Dabei wird freilich auch kein großer Wurf herauskommen. Wir wollen uns aber darum keine grauen Haare wachsen lassen, sondern uns den regen Antheil an allem Fortschritt bewahren und selber nach dem Maß unserer Kräfte mitwirken.“

„Und den Muth in der Brust wollen wir stählen, damit die rechte Stunde uns zur That für die erkannte Wahrheit bereit finde!“ sagte Adam wieder hochaufathmend.

„Und mit Liebe wollen wir uns und Andern das Leben schmücken,“ sagte Anders mild. „Nach der heißen Arbeit des Tags erquicke uns ihr süßer Thau!“

Sophie, die hinter seinem Stuhe stand, beugte sich leise hervor und küßte ihn, von den Andern ungesehen, auf die hohe Stirn.

„Wohlan denn, das Leben ruft uns in die Rennbahn des neuen Jahrhunderts!“ rief Adam. „Beginnen wir zu des Vaterlands Ehre den Wettlauf mit denen, die Kraft und Muth das Ziel zu erstreben anfeuern!“ Und nun las er Scenen aus Wallenstein vor.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 748. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_748.jpg&oldid=- (Version vom 5.12.2023)