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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

mit schwärzlich-grüner Kruste gepanzert, durch und durch in Schweiß gebadet, kamen wir aus dem verwünschten Unterholz des Sumpfes heraus. Gern hätte ich die Andern ausgelacht, wie sie mich, aber ein überraschender Anblick fesselte meine ganze Aufmerksamkeit. Der Hochwald der Plawni trat uns entgegen in seiner ganzen Majestät, Schönheit und Eigenthümlichkeit. Seinen Hauptbestand bilden Weiden, aber Weidenbäume wie es in der ganzen Welt nicht mehr gibt. Ihre ungeheueren Stämme, verknotet, verwachsen, auseinander gerissen, verkrüppelt und verschränkt, wie es die wildeste Phantasie des Künstlers nicht zu denken, geschweige denn darzustellen wagt, sahen allem Andern ähnlich, nur nicht Pflanzengebilden, und wäre nicht die Krone der hellgrünen Blätter gewesen, man hätte sie für Versteinerungen oder für barocke Götzenbilder untergegangener Riesenvölker halten können. Die ältesten, umfangreichsten dieser vielhundertjährigen Bäume waren alle hohl; von ihrer Größe mag man sich dadurch einen Begriff machen, daß nicht selten ein Reiter zu Pferd in der Höhlung sich bergen kann. Viele davon sind schwarz ausgebrannt, denn wie allenthalben in der Welt, zünden auch hier die Mäher und Hirten ihr Kochfeuer an in der bequemen, zuggeschützten Hütte; aber nichtsdestoweniger grünten die obenstehenden Aeste lustig fort. Gebrochene Stämme lagen überall unbenutzt am Boden, bis sie verfaulten; zuweilen hatten sie in der Rinde wieder ausgeschlagen, und dann sah der graue Stamm aus wie ein Felsen, aus welchem Gebüsch zum Licht emporschoßt. Zwischen den Weiden, sie hoch überragend, baueten mächtige Schwarzpappeln ihre zackig verworrenen Kronen in den Himmel, von dem sie freilich nur hier und da ein blaues Stückchen gewahren ließen. Was ihren Stämmen an Umfang abgeht, das ersetzen sie durch gewaltige Höhe; indem sie aber allenthalben die niedrigern Weiden überdachen, bildet sich ein Waldgewölbe von großartiger malerischer Wirkung, wie man es von diesen sonst gering geachteten Bäumen kaum erwarten würde, die freilich bei uns auch selten in Wäldern zusammen stehen. Den Boden zwischen ihnen bedeckt theils ein prächtig grüner, moosiger Rasen, jetzt gerade von den Heuern kurz geschoren, theils Schilf und Buschwerk mancherlei Art, fast undurchdringlich verflochten mit Kletterpflanzen und Dornranken; hier und da schimmerten die Spiegel trüber Lachen zwischen dem Grün hervor.

Auf einem prächtigen, reichbeschatteten Freiplatz erwartete uns die schöne Amazone und das Frühstück; ich glaube, das letztere zog in diesem Augenblick unsere Gefühle weit energischer an, als die Erstere! Und das wird man uns abgematteten Jägern eben so gern verzeihen, als sie uns verzieh! Wie hübsch einladend sah die weiße Serviette auf dem grünen Rasen aus, und wie unendlich hübscher noch alle die guten Sachen, welche malerisch darauf gepflanzt waren! Mit Waidmannslust begann sofort die Vertilgung derselben, den Beginn machte natürlich der unerläßliche Magenschlüssel Wodka, mit dem der Onkel niemals aufschloß, ohne dabei sein Lieblingsmotto, sein goldenes Wort auszusprechen: „Es gibt, keinen schlechten Schnaps!“ Allmählich aber traten Pausen ein, die sich immer öfter wiederholten und von bedenklichen Drehungen des Halses begleitet waren. „Wo ist der Wein?“ fragte endlich auf einmal unser Gastherr. O weh, er war vergessen worden, der wohlversehene, mit nassen Tüchern umhüllte Flaschenkorb war stehen geblieben, wo er stand, und wir mußten den Durst mit Wasser löschen. Glücklicherweise war dieses wenigstens mitgenommen worden; es befand sich, nach kleinrussischer Sitte, in einem eigenthümlich gestalteten Fäßchen, dessen Handhabung Geschicklichkeit erforderte, denn es mußte die Spundöffnung über den zum Himmel gerichteten Mund gehalten werden. Da gab es vielen Scherz, wenn dem Ungeschickten die Fluth über Bart und Brust schoß!

Nach einer Stunde bestiegen wir wiederum die Pferde. Ein schmaler Pfad leitete immer tiefer in den Urwald. Näher traten die riesigen Stämme zusammen, Falken und Sperber flogen schreiend von ihren Horsten auf, wilde Tauben girrten im hohen Laub, aber kein Singvogel ließ sich hören. Auch vierfüßiges Wild ist in dieser Jahreszeit selten in den Plawni zu treffen. Zuweilen kommen aus den Lindenwäldern im Norden verirrte Rehe herein, aber die sumpfige Niederung scheint ihnen wenig zuzusagen; öfter trifft man im Spätjahr wilde Schweine, von welchen aber keineswegs gewiß ist, ob es nicht blos verwilderte sind. Diesen aber wird der heftigste Krieg gemacht, weil sie die besten Wiesenstellen durchwühlen und allerlei verderblichen Unfug stiften. Wie in Amerika ließen lange Zeit hindurch die Bauern ihre Schweine, denen die rohen Zeichen ihrer Besitzer aufgebrannt waren, unbedenklich das ganze Jahr hindurch in die Plawni, wo sie sich in erstaunlicher Zahl vermehrten; nur zu gelegentlichem Bedarf wurde hier und da ein Stück geholt. Seitdem aber die Besitzung in strengerer Weise bewirthschaftet wurde, war ein Verbot gegen diesen Gebrauch ergangen. Die Bauern kehrten sich nicht daran. Da wurden eigens zu diesem Zweck mehrere Dutzend Flinten angeschafft und die damit bewaffneten Uprawitels (Verwalter), Prikaschtschiks (Beamten), Vögte und Schäfer führten einen unbarmherzigen Feldzug gegen das halbzahme Rüsselwild. Noch im vergangenen Jahre sind auf diese Weise über zweihundert Schweine in den Plawni getödtet worden. Die erlegten Thiere bleiben unberührt liegen, die Eigenthümer dürfen sie holen. Aber die meisten davon werden eine Beute der Geier, Adler, Krähen, Füchse und Wölfe. Die letzteren stellen sich nur mit dem Winter ein. Dann aber durchstreifen sie in großen Rudeln die Waldung, sie wagen sich bei hartem, andauerndem Frost bis an die Dörfer, und schauerlich klingt ihr wüstes Geheul ganze Nächte hindurch, beantwortet von dem zaghaften Gebell der Hunde, deren jedes Haus eine ganze Anzahl hält zur Bewachung von Menschen und Vieh. Hunderte von Schafen fallen alljährlich den blutdürstigen Bestien zum Opfer, trotz aller Vorsicht und Wachsamkeit der Hirten.

„Hier herum muß jetzt der Schatzgräber hausen,“ sagte der Onkel. – „Der Schatzgräber? Wer ist das?“ – „Sie werden ihn kennen lernen,“ rief unser Führer und setzte seinen Rappen in Galopp, um dem weit vorangeeilten Fräulein nachzukommen. Es war schwer, hier nebeneinander zu reiten. Immer wunderbarere Formen entwickelte der Wald, immer gewaltigere, seltsam gestaltete Bäume drängten sich, eine tiefe Dämmerung lag zwischen ihnen, wie Riesenschlangen liefen ihre verknoteten Wurzeln über den schmalen Pfad, der nicht selten von einem gestürzten Stamm gesperrt war, über welchen die Pferde hinwegsetzen mußten. Sie thaten dies willig und ohne Hülfen zu erwarten, nicht einmal strauchelten die bewundernswürdigen Thiere auf ihren Stahlfüßen; wer hätte auch auf den Weg achten können, da es beständig galt, den Kopf zu schirmen vor den niedrigen Aesten, die sich zu einem undurchdringlichen Dach über uns verschränkten. Da schlug plötzlich in nicht großer Ferne die tiefe Stimme eines Hundes an, lustig antworteten ihm Nero und Hector, unsere Begleiter. „Das ist der Schatzgräber!“ rief der Onkel. Das Dickicht lichtete sich vor uns, ein heller Sonnenschein blendete fast die Augen. Noch lag ein mächtiger Stamm im Wege; lachend flog die kühne Soninka darüber, und wie Diamantenregen sprühte es rings um sie empor – da galt kein Halten und Besinnen – hinüber, und in einem Augenblick befanden wir uns Alle bis zum Sattelknopf im Wasser. Ein schmales Flüßchen schlängelte sich hier träge durch den Wald, eingerahmt von uralten Weiden und haushohem Schilf. Der gefallene Baumstamm hatte es den Augen verborgen, bis es zu spät war, aber lachend und glücklich ging die Passage von Statten. Fast erschrak ich, als am andern Ufer mir plötzlich eine höchst sonderbare Gestalt in’s Auge fiel. Es war ein langer, hagerer, alter Mann, sein gelbes, runzelvolles Gesicht stach eigenthümlich ab gegen das weiße Lockenhaar, die dichten Augenbrauen und den wohlgepflegten, schneeigen Bart, der ihm bis zum Gürtel herabwallte. Auf dem Haupt trug er eine kegelförmige Tatarenmütze aus schwarzem Lämmerfell, damit war auch sein langer, dunkler Talar verbrämt; er stützte sich auf einen Spaten und neben ihm stand ein großer, zottiger Wolfshund. Er kam mir vor, wie ein geheimnißvoller Zauberer aus irgend einem der unbekannten Heidenvölker östlicher Steppen – man denke sich meine Verwunderung, als er uns plötzlich begrüßte im allerbesten sächsischen Hochdeutsch: „Ei scheenen kuten Tag, meine Herrschaften; wo kommen Sie denn her so zeit’g?“ – „Guten Tag, Lehmann!“ rief der Onkel, „was gibt’s Neues? Hast Du nicht wieder einen Schatz gefunden?“ – „Ach, schweigen Sie doch, Sie Spötter,“ entgegnete der in einen Lehmann verwandelte Zauberer, „Sie kriegen mich nicht wieder dran. Aber wollen Sie nicht die Gütigkeit haben, und ein bischen bei mir absteigen? Ich habe guten Quaß und Krebse, so groß wie Schafe!“ Das ließ sich hören, wir folgten der freundlichen Einladung; ich konnte mich immer noch nicht von meinem Staunen erholen.

(Schluß folgt.)



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