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verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Fast weiß ich nicht mehr wie durchkommen mit den fünf Kindern! Und nun die neue Sorge, die mir der Heinrich macht – daß ihm auch das verwünschte Hebräisch nicht in den Kopf will! Hilft nichts – er muß sich anstrengen; ich weiß keinen andern Ausweg für sein Fortkommen.“

Daheim im kalten Stübchen saß indessen der Gegenstand seines Zürnens, der unglückliche Heinrich, beim Licht einer grünen Schirmlampe vor einem aufgeschlagenen dicken hebräischen Bande. Seine blasse Wange ruhte in der aufgestützten Hand und trüben Blickes starrte er auf die wunderlichen Buchstaben hin, deren Sinn ihm auch heut’ gänzlich verschlossen blieb. Wie Hieroglyphen wimmelten sie vor seinen Augen auf dem vergilbten Papier durcheinander, und sorgenvoll schweiften seine wirren Gedanken nach Rath und Hülfe umher. Plötzlich schreckte ihn der wohlbekannte Klingelzug des Vaters empor, und mit einem schweren Seufzer eilte er hinaus nach dem Vorplatz, ihm zu öffnen. Finsteren Blickes trat der Secretair ein und erwiderte kaum den schüchternen Gruß des Sohnes, der schon im Voraus geängstet durch die peinlichen Erklärungen, zu denen es jetzt kommen mußte, schweigend dem Vater den Mantel ablegen half und ihm in das Stübchen folgte.

Stumm nahm er seinen Platz am Tische wieder ein, während der Zürnende hastig auf und ab schritt. An der Thür des Schlafzimmers, aus welchem man eben wieder die wimmernden Schmerzenstöne eines Kindes und die tröstende Stimme der Mutter vernahm, verweilte er einen Augenblick und fragte kurz: „Schlafen die Kinder noch immer nicht?“

„Die Größeren wohl,“ antwortete Heinrich, ohne aufzusehen, „aber Mariechen leidet gar so arge Schmerzen an den aufgegangenen Drüsen.“

„Auch dies Kind wieder scrophulös!“ murrte der Vater und trat dann dem erbebenden Sohne näher, zu dem er strengen Blickes sagte: „Du hast wohl daran gethan, mir Deine Censur durch die Mutter übergeben und Dich nicht eher vor mir sehen zu lassen, als bis sich mein Zorn etwas gelegt hat. Du, ein achtzehnjähriger Secundaner, bringst mir in Latein und Griechisch die Drei und im Hebräischen gar eine Vier. Pfui, der Schande! Aber ich durchschaue Dich; ich weiß, daß Du zur Theologie keine Lust hast, und Du denkst mich durch schlechte Censuren zu zwingen, meinen Plan, Dich Theolog werden zu lassen, aufzugeben und Dir einen andern, weltlichen Beruf zu erlauben. Aber daraus wird nichts; denn auf keinem andern Wege darf ich auf die Unterstützung durch Stipendien hoffen, die mir Dein Pathe, der Herr Consistorialrath, zugesagt hat, wenn Du Theolog wirst.“

„Aber lieber Vater, wie kannst Du so Schlimmes von mir glauben?“ stammelte der gekränkte Jüngling, und seine ganze schmächtige Gestalt erbebte vor innerer Aufregung, „ich kann auf’s Heiligste versichern, daß ich mir alle Mühe gegeben, und Tag und Nacht daran gesetzt habe, in so kurzer Zeit als möglich diese unglücklichen Sprachen zu erlernen, aber ich habe einmal dafür keine Auffassungsgabe, und deshalb – nur deshalb – scheue ich mich vor dem Studium der Theologie. Du weißt, ja selbst, lieber Vater, daß ich mit schwerem Herzen, aber dennoch willig meinem Lieblingswunsche, Techniker zu werden, entsagt habe; aber diese Sprachen nachzuholen, das geht über meine Kräfte! In Mathematik und im Deutschen habe ich ja noch immer die Eins erhalten“ – und zögernd setzte er hinzu: „O, wenn es jetzt noch möglich wäre; wenn ich wieder zu dem früher erwählten Studium zurückkehren dürfte – Du solltest Deine Freude an meinen Fortschritten haben!“

„Techniker!“ warf der Vater verächtlich ein, „also noch immer der verrückte Gedanke, der unaufhörlich in Deinem Gehirn spukt, so oft ich Dir ihn mit vernünftigen Gründen ausgeredet zu haben glaubte! Soll ich Dir’s immer von neuem wiederholen, daß damals, als ich Dich auf’s Gymnasium brachte, mit der Absicht Dich später zum Techniker ausbilden zu lassen, noch ganz andere und bessere Zeiten für die Staatsdiener waren? In den letzten Jahren sind ja die Preise der Lebensmittel und Wohnungen um fast fünfzig Procent gestiegen, die Besoldungen also auf die Hälfte entwerthet, und Du hättest ein Handwerk lernen müssen, wenn Dein Herr Pathe sich nicht mit seinem Anerbieten in’s Mittel geschlagen hätte.“

„Vater,“ bat der geängstigte Sohn, „laß mich doch noch den Versuch machen; ich erwerbe mir ja schon jetzt so Manches durch Unterrichtgeben. Die Mathematikstunden werden sehr gut bezahlt, und ich will Tag und Nacht arbeiten und mich gewiß auf’s Aeußerste einschränken!“

„Es ist unmöglich,“ erwiderte der Vater barsch, „diesen Gedanken mußt Du Dir aus dem Sinne schlagen. Allein kannst Du Dich nicht fünf Jahre lang auf der theuren Schule erhalten, und auswärts kostest Du mir bei weitem mehr, als wenn Du hier die Universität besuchst und Dein Kämmerlein mit Deinen Brüdern theilst, für die doch auch gesorgt werden muß. Zwar ist dies Kämmerlein schon jetzt zu eng für Euch Drei, aber eine theurere Wohnung kann ich nicht bezahlen! So werden wir wohl,“ fügte er bitter lachend hinzu, „Cojen oder Hängematten für Euch anbringen müssen wie auf den Schiffen. Uebrigens ist in dieser Angelegenheit ein Wort so gut wie tausend, denn die Sache ist zwischen mir und dem Herrn Consistorialrath längst abgemacht. Nicht Jedem wird es so gut geboten, und Du, als Erstgeborner, bist es Deiner Familie schuldig, diese herrlichen Aussichten nicht von der Hand zu weisen, denn wenn Du ausstudirt hast, verschafft Dir Dein Herr Pathe eine einträgliche Hauslehrerstelle und später eine ansehnliche Pfarrei, wo Du Latein und Griechisch an den Nagel hängen und den dicken Hebräer meinetwegen vermodern lassen kannst! Also strenge Dich nur ein paar Jahre noch an; dann kannst Du auf Deinen Lorbeeren ruhen. Und nun gute Nacht; dies is mein letztes Wort.“

Rasch wandte er sich und ging in’s Schlafzimmer, ohne die flehende Gebehrde und den verzweiflungsvollen Blick des unglücklichen Sohnes zu beachten.

Draußen fand er die arme Mutter am Lager ihres eben ein wenig eingeschlummerten leidenden Lieblings in bitteren Thränen, die sie vergebens vor ihm zu verbergen suchte. Aber er sagte ihr kein teilnehmendes Wort; er fürchtete die Bitten der weichherzigen Gattin, und begab sich schnell zur Ruhe, wenn auch nicht zum Schlummer, denn Unmuth und Sorge hielten ihn noch lange wach. Leise schluchzte die Tiefbetrübte hinter dem Tuche; sie hatte jedes der harten Worte gehört, und mit jedem war ein Schwert in ihre Seele gedrungen, aber sie wagte nicht den grollenden Gatten durch wiederholte Bitten noch mehr zu erzürnen.

Sie war die Vertraute des armen gequälten Sohnes: sie war Zeugin und Gefährtin seines nächtlichen Fleißes gewesen, wenn sie, die am Tage unermüdliche und thätige Hausfrau, auch die Stunden der Nacht noch zu Hülfe nehmen mußte, um die sich mehrende Arbeit zu bewältigen.

Wie viele heiße Thränen hatte sie da schon mit dem vergebens sich abmühenden und ringenden Sohne vergossen! Wie oft hatte sie ihn mit der Hoffnung zu trösten gesucht, daß er gewiß, was ihm jetzt schwierig erscheine, noch mit Leichtigkeit überwinden werde, wenn ihm einmal erst das Verständniß für die ihm so widerwärtigen Sprachen aufgegangen sei! Doch konnte sie auch ihrem Gatten, den nur die Last der Sorgen aus einem milden, zärtlichen Vater in einen so rauhen, unerbittlichen umgewandelt hatte, nicht ganz Unrecht geben; sie konnte nur mit dem Sohne weinen; und sein Schicksal beklagen, das ihn in eine Laufbahn drängte, die ihm nicht zusagte. Aber die günstige Lage, in die er durch Gehorsam gegen den Willen des Vaters später vielleicht die ganze Familie versetzen würde, schien auch ihrem einfachen Verstande die einzige Rettung aus der drückenden Noth, in welche sie, ohne diese Aushülfe, nur immer tiefer versinken mußten.

Vergebens hatten sich die beiden Gatten abgemüht, durch Fleiß und Entbehrungen ihre Lage zu verbessern; nur höchst selten gestattete er sich – wie heute – im Kreise einiger Freunde Erheiterung und Erquickung bei einem Glase einfachen Bieres zu suchen; eben so selten erlaubten sie sich einen längeren Spaziergang in’s Freie, um den Kleinen einmal Erholung in der schönen Gottesnatur zu gönnen; umsonst waren all ihre Entsagungen – die Theurung wuchs und die Noth nahm zu, da auch die Kinder alle mit mehr oder weniger langwierigen Krankheiten zu kämpfen hatten. All diese trüben Gedanken wogten in der Seele der armen Mutter auf und ab, und ihr Schluchzen unterdrückend, um den Gatten nicht zu stören, stand sie endlich leise auf und schlich in's Nebenstübchen, dem Sohne ihres Herzens, den sie so unglücklich wußte, noch ein Wort der Theilnahme zu sagen.

Das junge sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, saß er noch immer, in tiefes Sinnen verloren, Selbst die sanfte, tröstende Stimme der Mutter vermochte nicht sogleich, ihn aus seinem starren Hinbrüten zu wecken. Eine Weile stierte er sie mit glanzlosen Augen an, dann fuhr er empor und sagte mit heiserer, beklommener Stimme: „Gut, daß Du kommst, meine Mutter; eben wollte ich gehen!“

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