Seite:Die Gartenlaube (1859) 652.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

So wird also ganz naturgemäß eine Steigerung des Gefühls aufsteigender Tonfolgen sich bedienen, ein Abnehmen oder Zurücksinken der Stimmung in abwärts sich neigenden einen entsprechenden Ausdruck finden. Eine unruhige, feurige Leidenschaft wird in größeren, unregelmäßigeren Intervallensprüngen sich kundgeben, während dagegen ein ruhiges Sichgleichbleiben auch sanftere, ruhigere Tonfolgen hervorruft. Der Jubel, die Freude, überhaupt die mehr als Affecte sich äußernden Gefühle streben aufwärts, die Trauer, die Demuth, sowie alle mehr in sich selbst sich versenkenden Gemüthsbewegungen neigen sich niederwärts.

Den Punkt, bis zu dem eine solche Ausdrucksfähigkeit bloßer Intervallenfortschreitungen ohne Rhythmus und Harmonie, mit vollkommener Sicherheit zu verfolgen wäre, können wir hier nicht aufsuchen – wie überhaupt bei der populären Darstellung einer Wissenschaft oder Kunst die in sehr enge Grenzen gewiesene Untersuchung zur völligen Austragung des Gegenstandes nicht gelangen kann. Später werden wir noch sehen, daß die Melodie manches Uebereinstimmende mit der Sprache und Declamation hat, selbst eine Sprache ist, jedoch eine potenzirte, zum freien selbständigen Gesang für sich, erhobene Sprache, von der die Declamation als allerdings nothwendiger Theil erscheint. Man möge nur die Töne eines wirklich empfindungsvollen, von einem begabten Menschen im richtigen Affect gesprochenen Satzes zusammenfassen, und wird nicht leugnen können, daß die Hebungen und Senkungen der Declamation, folglich auch des dem Satze zu Grunde liegenden Gefühls, die Grundlage der Hebungen und Senkungen der zu demselben Satze gebildeten Melodie sein werden. Doch was die bloße Sprache und Declamation gewissermaßen noch auf einer Naturstufe ausdrückt, gibt die Musik und Melodie in freiem Kunstausdruck wieder; daß ich eine in’s Einzelne hineingehende Nachahmung der Wortdeclamalion in der Melodie keineswegs für zulässig halte, wird sich später zeigen.

Im Allgemeinen sind Sie gewohnt, die Melodie im engeren Sinne aufzufassen, und zwar als die obere oder überhaupt am meisten in’s Ohr fallende Stimme eines Musikstücks; es ist Ihnen geläufig, die Melodie von der Harmonie getrennt, die letztere als Begleitung der ersteren, zu denken. In der weiteren Bedeutung ist, wie schon erst erwähnt, jede Stimme eines gutgesetzten Tonstücks bis zu einem gewissen Grade, Melodie, diese deshalb Bestandtheil der Harmonie, wie die Harmonie wiederum ihre Grundlage ist.

Unter Harmonie versteht man nun das, auf mannichfachen Gesetzen beruhende gleichzeitige Erklingen von Tönen.

Man kann auch weiter sagen: die Harmonie ist das, zu consonirenden und dissonirenden Ton-Verhältnissen zusammentreffende, gleichzeitige Erklingen mehrerer übereinanderliegender Melodieen. Besonders deutlich zeigt sich dieses an dem polyphonen Styl der kirchlichen Tonkunst, dessen Charakter ist, daß jede der übereinanderliegenden Stimmen ausgebildete, selbständige Melodie sein, und doch mit den andern in einem einheitlichen Zusammenklang aufgehen soll. Dieser Zusammenklang ist die Harmonie.

Sowie eine Folge von richtigen und wohlklingenden Harmonien ohne irgend welche Melodie nicht denkbar ist – ebensowenig eine, wenn auch rein einstimmige Melodie ohne einen, ihren Intervallenschritten zu Grunde liegenden harmonischen Inhalt. Die meisten Intervallenschritte einer Melodie sind Bestandtheile eines Accordes; harmoniefremde (durchgehende) Noten leiten von einem Accord-Intervall zum andern über, die Härte bloßer Accordschritte mildernd und zur Melodie abrundend.

Auch eine rein einstimmige Melodie, ohne jede Begleitung hat in ihren Tonfolgen und Entfernungsmaßen des einen Tones vom andern doch jederzeit eine Hinweisung auf Zusammenklang mit andern Nebenstimmen; ein musikalisch gebildetes Ohr vernimmt mit der Melodie die Harmonie gleichzeitig, auch wenn sie nicht dazu gespielt oder gesungen wird. Ebenso entsteht in der Composition bei Erfindung der Melodie die Harmonie unmittelbar gleichzeitig mit ihr, wird nicht erst, nachdem jene fertig ist, ausgedacht und hinzugefügt.

An und für sich gedacht, erscheinen bloße Accordfolgen eines Gefühlsausdruckes bei weitem weniger fähig, wie die Melodie (oder der Rhythmus). Erst der neuesten Musik gehört eine größere Selbständigkeit der Harmonie für sich an; diese erst besitzt eigentliche harmonische Effecte und Wirkungen, während in der erstern, besonders auf den Grundsätzen des polyphonen Styles ruhenden, die Harmonie, wie schon erst erwähnt, mehr als aus dem Zusammentreffen übereinanderliegender Melodien gewissermaßen zufällig hervorgeht. Wenn in unserer modernen Musik die Melodie bei einer Reihe von Accordfolgen auch niemals gänzlich fehlt, so tritt sie doch oft in den Hindergrund zurück, sodaß die Wirkung und der Ausdruck einer oder der anderen Partie in einem Tonstück hauptsächlich auf der Harmonie beruht. Es kann nicht nur plötzliche Modulation in ferne Tonarten eine plötzliche Umstimmung des Gefühls, oder ein allmähliches Verlassen, ein entsprechend allmähliches Heraustreten aus einem Gemüthszustande versinnlichen, sondern bestimmte Harmoniefolgen je nach der Härte oder Weichheit, dem einfachen oder complicirten Verhältniß ihres Zusammenklanges können auch entsprechenden Gefühlsausdrücken zur Folie dienen.

Also, wie die Harmonie jederzeit tonliche Grundlage der Melodie ist, so hat sie auch sehr wichtige Bedeutung, nicht etwa als nur decoratives, sondern auch zur Deutlichkeit und Modification der in der Melodie ausgesprochenen Stimmung beitragendes Element. Manche Theoretiker, die der Harmonie nur reines Verstandesinteresse gönnen und sie deshalb als etwas der Tonkunst überflüssiges, ja nachtheiliges ansehen, haben diese Meinung wohl mehr einer eigenen begrenzteren Sinnlichkeit wie einem objectiven Nachdenken über die Sache zu verdanken.

Eine rein einstimmige Musik würde uns geradezu langweilen – denken Sie sich, wenn Sie können, eine Symphonie ohne die Fülle der Nebenstimmen und den Reichthum des Tonwechsels in der Harmonie! Und ganz von der Tonwirkung abgesehen, steht der Harmonie eine hohe ästhetische Bedeutung zu; denn die, man möchte sagen, subjective Einsamkeit einer einzelnen einstimmigen Melodie geht in der Vereinigung mit der Harmonie gewissermaßen ein Bündniß mit der größeren Allgemeinheit ein, von der sie nunmehr getragen wird. Die Vereinigung einer reicheren Mannichfaltigkeit von Tönen oder Melodien in der Einheit der Harmonie kann weder der Bedeutung noch der Form nach der Kunst entgegensein, da die Harmonie nicht nur eigene Wirkungen für sich mit sich führt, sondern auch die vereinzelte Schönheit einer einstimmigen Melodie auf eine höhere Stufe der Mannichfaltigkeit erhebt.

Ueber einige Harmonieverhältnisse sei es gestattet, noch etwas zu erwähnen; die Zusammenklänge von Tönen sind jedoch so ungemein reich, daß wir uns natürlich auf die allereinfachsten beschränken.

Daß unser Tonsystem sich in zwei Hauptklanggeschlechter sondert, in Dur und Moll, ist Ihnen bekannt. In der Durtonleiter sind Terz und Sexte groß, in der Molltonleiter klein. Das Durgeschlecht charakterisirt sich in helleren und heiteren Klangfärbungen, die kräftigeren und heiteren Stimmungen gehören ihm an; dem Mollgeschlecht ist der Stempel der Schwermuth und Weichheit aufgedrückt,[WS 1] und die entsprechenden Gefühle finden im allgemeinen in ihm ihren Ausdruck.

Die ganze Masse von Accordgestalten, welche die Musik besitzt, können wir in zwei Hauptgruppen theilen – nämlich in Dreiklänge und Septimenaccorde; alle anderen Accordbildungen sind entweder Ableitungen von diesen Grundformen, oder auch zufällige Accorderscheinungen (Vorhalte, alterirte Harmonien) und deshalb auch im letzteren Falle auf jene Grundformen stets zurückzuführen.

Der Dreiklang ist das Zusammenklingen des Grundtons mit seiner Terz und Quinte: ist die Terz groß, so ist es ein großer Dreiklang, ein Duraccord (c–e–g); ist sie klein, so ist es ein kleiner Dreiklang, ein Mollaccord (c–es–g). Ebenso entsteht aus dem großen Dreiklang der übermäßige (c–e–gis) durch Erhöhung der Quinte, und der verminderte (cis–e–g) durch Erhöhung des Grundtons.

Fügen Sie dem Dreiklang eine dritte Terz (die Septime vom Grundton) hinzu, so entsteht der Septimenaccord. (c–e–g–h der große, mit großer Septime, c–e–g–b, der kleine, mit kleiner Septime und cis–e–g–b, der verminderte Septimenaccord mit verminderter Septime; ebenso auch die Septimenaccorde c–e–gis–h und c–es–g–b.)

Nur der große und kleine Dreiklang sind consonirende Accorde – alle übrigen chromatisch veränderten Dreiklänge, sowie alle Septimenaccorde sind dissonirende Harmonien, welche demgemäß der Auflösung in consonirende Harmonien bedürfen. Alles vorhin über die Dissonanzen gesagte, findet hier seine Anwendung.

In der Tonleiter waren uns vorhin drei Töne besonders

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: aufdrückt
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 652. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_652.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)