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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Keiner von diesen Meiern vertauscht wohl seinen alten, ihnen so wohlklingenden Namen mit einem der vornehmsten westphälischen Adelsfamilien. Stolz sagen sie: „Ihr Name ist alt; aber der unsrige ist noch älter, sie sind Grafen und Barone; aber wir sind die Sattelmeier, König Wittekind’s Sattelmeier!“ – Nehmen die westphälischen Sattelmeier es an Rang mit dem westphälischen alten Adel auf, so noch mehr mit dessen Reichthum. Sie waren bereits früher reich und sind es immer mehr geworden, da im Allgemeinen wohl kein Stand in den letzten Jahren mehr emporgekommen ist, als der Bauernstand. Er hat von den theuern Jahren, ja selbst von der Revolutionszeit unendliche Vortheile genossen. – Ihr größter Segen ist ihr consequentes Festhalten an alten, einfachen Sitten und Gebräuchen; – ihr Stolz ist, Bauer zu sein,– nichts Anderes sein und werden zu wollen! – Dieser Stolz ist die sichere Grundlage ihres sich immer mehr anhäufenden Reichthums. Ihre Erinnerungen sind ihnen ein gutes Schild gegen Luxus und Verfeinerung, diese Harpyien des Reichthums. Da sie nun stolz darauf sind, noch den Titel zu tragen, den ihre Ahnen zu des mächtigen Sachsenherzogs Zeiten besessen, wollen sie auch der Beschäftigung ihrer Vorfahren treu bleiben, die einst ebenfalls mit eigener Hand den Boden bebauten, den ihr Herr und König ihnen in seinem verliehenen Herzogthume zur Bebauung angewiesen. Schwere, harte Arbeit kommt ihnen nicht als Schande vor, denn sie gedenken, daß ihre Ahnen, die einst in starker Hand an Wittekind’s Seite das Schwert gegen Karl den Großen geführt, auch später, als Frieden im Lande herrschte, mit dieser Hand das Feld und den Garten bestellt haben.

Viele der den Sattelmeiern von Wittekind eingeräumten Vorrechte sind ihnen bis auf unsere Zeit erhalten, namentlich den sieben, die in der Gegend von Enger noch ansässig sind. Wittekind hatte die Sattelmeier nicht allein von Abgaben frei gemacht, sondern auch Ehrenbezeigungen für sie angeordnet. Zu seinen Lebzeiten bildeten sie sein Gefolge, und bei ihrem Tode wurden ihnen große Ehren erwiesen. Die Gebräuche bei ihrer Bestattung sind es unter andern Vorrechten, welche bis auf die Jetztzeit übergegangen sind. Drei Tage wird ihre Leiche zu ungewöhnlicher Stunde in der Kirche beläutet. Geistliche müssen schon vom Meierhofe aus den Sarg begleiten, hinter dem ein gesatteltes Pferd hergeführt wird. Ehe man den Sarg in die Gruft senkt, wird er in die Kirche zu Enger getragen, vor Wittekind’s Grabmahl auf dem Kirchenchore niedergesetzt, als solle der todte Sattelmeier von seinem geliebten König Weking den letzten Abschied nehmen. Dieser Feierlichkeit folgt Gottesdienst, und erst nach Beendigung desselben erfolgt die Bestattung auf dem Kirchhofe. Den Frauen der Sattelmeier wird beim Leichenbegängnis der größte Theil dieser Ehrenbezeigungen auch erwiesen.

Die Sattelmeier, die Wittekind’s Gebeine für die Kirche in Enger zurückgefordert, und durch Gesetzesausspruch auch endlich ihr Recht erhielten, holten ihres Königs Ueberreste mit vielem Gepränge und Pomp von Herford ab. Sie geleiteten Alle zu Pferde den Sarg, der nun zum zweiten Male in der Kirche beigesetzt wurde, die die Veranlassung von Wittekind’s Ansiedelung im Angergau gewesen.

Das Grabmal Wittekind’s befindet sich auf dem Chore der Kirche zu Enger hinter dem Altare. Es ist eine von Kaiser Karl IV. 1377 im Renaissanccstyl errichtete Tumba. Auf derselben liegt die in Lebensgröße in Stein ausgehauene Gestalt des Sachsenherzogs. Sein Haupt bedeckt eine Art gesteifter Mütze, das Haar ist kurz geschnitten und das Gesicht ohne Bart. Er ist mit einem Talar bekleidet, der weite Aermel hat und welcher, wie auch die Mütze, mit Edelsteinen besetzt zu sein scheint. Seine rechte Hand ruht auf der Brust, die linke, welche den Scepter hält, ist durch das Gewand verhüllt. Die Füße sind mit Schuhen bedeckt, die sehr spitz zulaufen, fast bis zu den Zehen offen geschlitzt sind, und weder Absätze haben, noch mit Bändern befestigt sind. – Das Grabmal trägt an der rechten Seite des Würfels die Inschrift:

Hoc collegium Dionisianum in Dei Opt. Max. honorem privilegiis reditibusque donatum fundavit et confirmavit. Obiit anno Christi DCCCVII. relicto filio et regni herede Wigeberto.

An der linken Seite stehen die Worte:

Monumento Wittekindi, Warnechini filii, Angrivariorum regis. XII. Saxoniae procerum ducis fortissimi.

An dem breiten Rande der vorspringenden Steinplatte, die Wittekind’s Gestalt trägt, ziehen sich die Worte:

Ossa viri fortis – cujus sors nescia mortis – iste locus munit – euge bonus spiritus audit – Omnis mundatur – hunc regem qui veneratur – aegros hic morbis – rex salvat et orbis.

Letztere Worte beziehen sich wohl auf den Ruf der Wunderthätigkeit, in dem Wittekind’s Grab während vieler Jahrhunderte stand.”“

Der Glaube an Wunder ist jetzt mehr und mehr in der Seele der Menschen erloschen. An Wittekind’s Grabe knieen wenigstens keine frommen Beter mehr im gläubigen Vertrauen auf Erhörung ihres Gebets, und vergeblich ertönt am Dreikönigsfeste das Glöckchen durch das Angerthal, denn kein Wallfahrer erscheint, die geweihte Stätte aufzusuchen. Auch ein das Grab besuchender Fremder ist in Enger eine Seltenheit.

Die Bewohner der Gegend sehen den Grund des Verlassenseins jener berühmten Grabstätte in der Länge der Zeit, die darüber hinweggezogen ist, seit Wittekind im Angergau residirte. Ich erhielt wenigstens zu verschiedenen Malen, wenn ich in Enger war, von den verschiedensten Leuten auf Anfragen nach Wittekind die Antwort: „Dat is all unbännig lange her, dat dä Minske hätt livet!“ (Das ist schon sehr lange her, daß der Mensch lebte!) Sagte ich wohl, daß, wenn es auch lange her sei, man ihn dennoch nicht vergessen dürfe, so entgegnete man mir treuherzig: „Nä, dat wirr woll so lange nich sin, we he nau bebimmelt wird, und bebimmeln thun se use olle Weking nau alle Jahr!“ (Nein, das wird wohl so lange nicht der Fall sein, als er noch beläutet wird, und beläutet wird unser alter Wittekind noch jedes Jahr.)

Ich glaube indessen, auch ohne das sogenannte Grabläuten am Dreikönigsfeste wird Wittekind nicht vergessen werden. Die Erinnerung an ihn gehört zu den alten historischen Erinnerungen Westphalens, auf die jeder Bewohner des Landes mit ganz besonderem Stolz zurückblickt. König Weking ist ein Liebling des Volkes und unzählige Sagen knüpfen sich an ihn. Auf vielen Bergeshöhen, wo noch alte, epheuumrankte Wartthürme oder kleine unbedeutende Mauerüberreste stehen, spricht man, es wären die Ruinen ehemaliger Burgen Wittekind’s, und wo man im Angerthal alte verwitterte Bäume an Orten mit hübscher Aussicht trifft, heißt es gewiß: „Das war ein Lieblingsplatz König Weking’s!“

Am tiefsten und festesten wurzelt aber die Liebe zu Wittekind und die Anhänglichkeit an ihn in den Herzen der Nachkommen seiner ehemaligen Genossen. Es ist, als ob er unter den Sattelmeiern noch fortlebte, er noch immer ihr König und Herr, ihr Freund und Gefährte sei. Einen hübschen Zug jener rührenden Anhänglichkeit an ihn erhielt ich, als ich das erste Mal in Enger war. Ich traf dort an Wittekind’s Tumba mit dem Sohne eines Sattelmeiers zusammen. Er wollte sich am Kampfe in Schleswig-Holstein betheiligen und bereits am nächsten Tage sein Heimathland Westphalen verlassen. Sein letzter Abschiedsbesuch galt König Wittekind, dem er Lebewohl sagte. Lange und ernst betrachtete er das Steinantlitz. Er hat es nicht wiedergesehen, – denn schon wenige Wochen später war er in dem Kampfe für deutsche Freiheit und deutsches Recht gefallen.

Oft habe ich an jenen jungen, für die Sache Schleswig-Holsteins begeisterten Bauer denken müssen und mich gefragt, ob er wohl an jenem Tage an Wittekind’s Tumba eine Ahnung seines Todes gehabt und ob ihn das Gefühl in die Kirche zu Enger getrieben hat, Wittekind vor seinem Scheiden aus der Welt noch einmal zu sehen.

Dieses erste Mal, wo ich Jemand an der berühmten Grabesstätte fand, war auch das einzige Mal. Niemals ferner, so oft ich auch Enger besuchte, traf ich dort einen Menschen. Leer, einsam und verödet war die Stätte, die eine so glorreiche, interessante Vergangenheit gehabt hat. Sucht indessen einmal wieder ein Fremder diesen verlassenen Ort, dieses kleine armselige Dorf in Westphalen auf, – er bereut gewiß nicht den kurzen Aufenthalt auf seiner Reise, wenn er nur einigermaßen Interesse für die Ereignisse vergangener Jahrhunderte hat.

Aus der alten Tumba, wo der greise Sachsenherzog in Stein ausgehauen liegt, steigen gar wundersame Bilder aus fernen Zeiten auf, die man mit einer gewissen heiligen Scheu betrachtet, wenn sie vor dem Auge des Geistes vorübergleiten. Unter gleichem wunderbarem Zauber steht man beim Anblick des kleinen Mauerüberrestes am Kirchhofe, – der einzigen, letzten, unbedeutenden Spur jener stolzen Königsburg, deren Zinnen einst weithin durch’s große, mächtige und blühende Angerthal leuchteten. Es ist eine verlassene Stätte; doch eine vergessene wird sie hoffentlich nie werden.

Luise E.



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