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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Namen schriftlich einen so zärtlichen und dankbaren Abschied von ihnen genommen, daß sie ihr nicht böse werden konnten und um ihretwillen auch ihrem Verlobten verziehen. Sie habe, schrieb sie, plötzlich Nachrichten aus der Heimath erhalten, die namentlich in Betreff ihrer Erbschaftsangelegenheit ihre schleunigste Rückkehr nöthig machten. Ihr Bräutigam begleite sie. Sie werde nach Erledigung jener Angelegenheit mit ihm nach Hamburg reisen, wo er sie in seine Familie einführen wolle. Hoffentlich werde sie dann einen kleinen Abstecher nach dem Bade machen, um ihren liebenswürdigen mütterlichen Freundinnen doch noch auch persönlich ihren Dank sagen zu können u. s. w.

Die alten Damen warteten in der That auf den Abstecher und die persönliche Danksagung. Aber die Saison war schon beinahe zu Ende, als die wenigen der würdigen Damen, die dageblieben waren, noch immer vergeblich darauf warteten.

Da erschien eines Tages in ihrer Mitte der Polizeidirector des Badeortes und an seiner Seite ein fremder Polizeibeamter. Derselbe war in einer wichtigen Angelegenheit eingetroffen, in welcher er namentlich an dem Badeorte Aufschlüsse zu erlangen hoffte. Er hatte sich an den Polizeidirector des Ortes gewandt, und dieser hatte ihn zu den alten Damen geführt.

Von ihm erfuhren sie zunächst Folgendes: Marianne Bohle war vor ungefähr drei Wochen aus dem Bade in ihrem Heimathsorte angekommen, um den Betrag der unterdeß für sie versilberten Erbschaft ihrer verstorbenen Herrin und Wohlthäterin in Empfang zu nehmen. Die Sache war rasch erledigt worden. Sie hatte schon nach wenigen Tagen wieder abreisen können. Den Betrag ihrer Erbschaft hatte sie zu der Summe von einundzwanzigtausend Thalern mitgenommen, theils baar in Gold, theils in Banknoten.

Einige Koffer mit Sachen, die zwar keinen hohen Werth hatten, für sie aber theure Andenken waren, hatte sie zurücklassen müssen. Ihr Wirth hatte aber von ihr den Auftrag erhalten, sie ihr sofort nach Hamburg unter einer Adresse, die sie ihm gegeben, nachzuschicken. Er war dem Auftrage nachgekommen. Allein schon nach wenigen Tagen erhielt er von Hamburg eine Antwort, daß eine Dame, Marianne Bohle, weder unter der bezeichneten Adresse aufzufinden, noch auch der Polizei oder sonst irgend Jemandem in Hamburg bekannt sei, hier also auch gar nicht angekommen sein könne. Dem Mann war die Nachricht auffallend; er dachte an das viele Geld, das sie mitgenommen hatte. Er machte der Polizei seines Ortes Anzeige.

Die Polizei forschte weiter nach, anfangs ohne sonderlichen Verdacht, bald aber unter Häufung dringender Verdachtsgründe, daß ein Verbrechen verübt sei.

Marianne Bohle war in dem Orte, einer kleinen Stadt, allein mit der Post angekommen. Sie hatte sich nur drei Tage dort aufgehalten und mit Niemandem verkehrt, als mit ihrem Geschäftsführer und einigen alten Freundinnen. Sie war dann auch allein wieder abgereist, gleichfalls mit der Post, auf der Tour nach Hamburg. In dem Postwagen hatte sich mit ihr keine verdächtige Person befunden. Das war Alles unverfänglich.

Verdachterregend war zuerst Folgendes: Die Post schloß sich etwa zwölf Meilen von dem Städtchen an eine nach Hamburg führende Eisenbahn an. Marianne Bohle war bis an den Anschluß im Postwagen geblieben. Ein junger Mann hatte dort in einem Einspänner, den er selbst fuhr, auf sie gewartet. Sie war zu ihm eingestiegen und der Einspänner war davon gefahren. Niemand hatte ihn seitdem wieder gesehen, auch den jungen Mann nicht, der ihn führte, auch Marianne Bohle nicht. Das mußte Verdacht erwecken. Man forschte weiter nach; man fand weitere Spuren. In dem Städtchen wurde ermittelt, daß Marianne Bohle ihren Freundinnen mitgetheilt habe, sie sei mit einem reichen Kaufmannssohne aus Hamburg, Namens Urner, verlobt. Er habe sie vom Bade her begleitet, aber nicht ganz bis zu dem Städtchen. Etwa fünf oder sechs Meilen vor diesem, wo ihr Weg sich von dem nach Hamburg getrennt, habe er sie verlassen, um direct seinen Weg nach Hamburg fortzusetzen; er habe dort Einleitungen zu ihrem Empfange treffen wollen. Es war jetzt nur Zweierlei anzunehmen. Entweder war der junge Mann, der sie auf jener Eisenbahnstation in dem Einspänner in Empfang genommen, ihr Bräutigam Urner; dann war es in hohem Grade auffallend, daß man in Hamburg von ihrer Ankunft nichts wußte, zumal da doch das Urner’sche Haus ein reiches, also bekanntes Handlungshaus sein sollte. Oder jener junge Mann war ein Anderer; dann war es fast noch mehr auffallend, daß der Bräutigam sich nach der verlorenen Braut nicht sollte erkundigt haben, daß er gar nichts von sich hören ließ.

Man forschte in Hamburg selbst weiter, und da ergab sich denn das Auffallendste, Verdächtigste. In Hamburg existirten mehrere Familien Urner. Aber in keiner kannte man den Namen Marianne Bohle, und in keiner war ein Sohn oder Anverwandter, der nur über achtzehn Jahre alt war, also der Bräutigam der Verlorenen hätte sein können. Ein Anderer mußte mithin den Namen und Familienstand Urner aus Hamburg – den Vornamen Max hatte Marianne Bohle nicht genannt – angenommen haben. Also ein Betrüger! Welch großes Feld weiterer, furchtbarer Combinationen ergab sich da!

Zunächst wurde ein Polizeibeamter nach dem Badeorte geschickt, wo Marianne Bohle und der angebliche Max Urner sich kennen gelernt und verlobt hatten; er sollte Erkundigungen über die Persönlichkeit Urners und das Verhältniß Beider einziehen. Der Beamte wurde zu den alten Damen geführt.

Sie konnten allerdings die beste Auskunft geben, gleichwohl für Verstärkung der Spuren des verfolgten Verdachts nur geringe. Die guten Damen waren im höchsten Grade bestürzt über das rätselhafte Verschwinden ihres Lieblings Marianne. Aber gegen ihren noch größeren Liebling Max Urner konnten sie darum nicht den geringsten Verdacht aufkommen lassen. Beinahe nur für ihn waren sie so bestürzt, und war er kein reicher Kaufmannssohn aus Hamburg, so mußte er dafür ein desto reicherer und vornehmerer, wahrscheinlich gar adliger junger Herr sein, der sich wohl das Vergnügen machen konnte, ein bürgerliches Incognito anzunehmen, schon um seine geliebte Marianne nachher desto freudiger zu überraschen. Ihre Beschreibung der Person Urners konnte übrigens ebenfalls kein neues Licht geben, da der junge Mann, der Marianne Bohle im Einspänner abgeholt, nur im Dunkel des Abends und zu flüchtig gesehen worden war, als daß man irgend eine Personbeschreibung mit Sicherheit auf ihn passend oder nicht passend hätte finden können.

Aber ein anderer Umstand sollte wenigstens einen Grund zu eigenthümlichem Nachdenken und zu weiteren Nachforschungen in einer anderen Richtung darbieten.

Die Damen erwähnten in ihrem Lobe des jungen Mannes auch jener „Verworfenen“, der er mit so vielem Muthe das Leben gerettet habe. Der Polizeibeamte forschte nach dieser. Sie selbst war schon vor Urner abgereist, und man hatte seitdem nichts weiter von ihr gehört. Aber die Personen, bei denen sie gewohnt hatte, auch Max Urner, mußten von ihr wissen.

Die Bewohner des abgebrannten Hauses wußten von ihr nur, daß sie viele Leute bei sich gesehen, aber wenige bei Tage; ob auch Max Urner, das konnte Niemand versichern.

Die Frau, bei welcher die Dame nach dem Feuer für wenige Tage ein Unterkommen gefunden hatte, wußte mehr. Ein junger Herr hatte sie zu ihr gebracht. Er hatte sich ihr nicht genannt. Allein ihre Beschreibung von ihm stimmte genau mit der Person Urners, und – der nämliche junge Herr war zweimal mit einer anderen blassen, kränklichen Dame da gewesen. Das erste Mal hatten sie mit der Geretteten gesprochen; das zweite Mal, am Morgen nach deren Abreise, sich nach ihr erkundigt. Und dieser junge Herr war mit der geretteten Dame sehr bekannt gewesen: er hatte sie auch noch am späten Abend vor ihrer plötzlichen Abreise besucht, nachdem er kurz vorher mit der kränklichen Dame bei ihr gewesen war, und er hatte ein langes und sehr eifriges Gespräch mit ihr gehabt, wovon aber die Frau nichts verstanden hatte, weil es in einer fremden Sprache geführt wurde. Das waren sehr überraschende Nachrichten, die selbst den alten Damen, als sie nachher davon hörten, auffallend waren.

Allein wie die alten Damen am Ende der Saison das Bad verlassen mußten, ohne weitere Auskunft zu erhalten, so war es auch allen ferneren Bemühungen der Polizei nicht gelungen, irgend ein helleres Licht in das Dunkel zu bringen, das über dieser Angelegenheit so verhüllend ruhte. Marianne Bohle blieb verschwunden mit dem Gelde, das sie mitgenommen hatte. Weder in ihrer Heimath erfuhr man weiter etwas von ihr, noch fand sich eine Spur von ihr in Hamburg, noch sonst irgendwo in der Welt. Nicht minder spurlos war Max Urner verschwunden. Und von der „schönen Bertha“ wollte nicht die geringste Kunde auftauchen.

War ein Verbrechen begangen, so war es in solcher Verborgenheit und mit solcher Vorsicht verübt, daß menschliche Klugheit darauf verzichten zu müssen schien, es jemals an das Tageslicht ziehen zu können.

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