Seite:Die Gartenlaube (1859) 581.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

No. 41. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Der Unheimliche.
Vom Verfasser der „Neuen Deutschen Zeitbilder“.

In einem besuchten deutschen Badeorte, den wir A. nennen wollen, waren eines Tages auf der Vormittagspromenade die Badegäste in einer ungewöhnlichen Aufregung. Alles war im eifrigen Gespräche mit einander. Familien, die zusammen ankamen, schienen zu Hause und auf dem Wege sich noch nicht ausgesprochen zu haben. Bekannte mußten es immer neuen Bekannten erzählen. Selbst Personen, die sich nicht näher standen, hielten einander an, theilten mit, fragten und theilten wieder mit. Alle sprachen über einen und denselben Gegenstand.

„Hat das Feuer heute Nacht auch Sie aufgeweckt?“

„Gewiß, und Sie auch?“

„Das war ein fürchterliches Feuer. Wer konnte da schlafen?“

Und dabei hatte sich etwas zugetragen, was vielleicht, wenn man es wiedererzählt, alltäglich und ordinair genug sich anhören mag, was aber dennoch für die, die es traf, schrecklich und entsetzlich und selbst für die bloßen Zuschauer grausig genug gewesen sein mochte.

Eine Stunde nach Mitternacht hatte plötzlich die Sturmglocke gerufen. Wer erwachte, wer an das Fenster, auf die Straße eilte, fand den Himmel hochgeröthet. Ein großes Feuer mußte ausgebrochen sein mit furchtbar reißender Schnelligkeit. Es sei am Markte, hieß es. Die Häuser waren da hoch, sie standen dicht; die Gefahr war dort eine doppelte. Alles eilte hin.

Das Feuer war in der That ein fürchterliches. Eins der höchsten Häuser des Platzes stand in vollen Flammen. Sie mußten in der unteren Etage ausgebrochen sein. Dort schlugen sie aus allen Fenstern hervor, und inwendig hatten sie schon Alles verzehrt. Sie mußten dann mit rasender Hast bis oben zum Dache hinan geflogen sein. An ein Retten des Hauses selbst war nicht mehr zu denken, auch nicht an ein Retten der Sachen darin. Was nicht schon heraus war, was die Menschen, die sich selbst hinaus gerettet hatten, nicht mit sich getragen, nicht vor sich hinausgeworfen hatten, das war unrettbar verloren. Es konnte nur noch gelten, die Häuser zu beiden Seiten zu bewahren.

„Aber sind alle Menschen aus dem Hause gerettet?“ hieß es. Man wußte es nicht. Man vermißte Niemanden. Aber in dem Hause wohnten Fremde, Badegäste. Wer kannte diese Alle? Manche konnten erst gestern, erst spät am Abend angekommen sein. Wer konnte überhaupt in dem Tumulte und in der Verwirrung eines furchtbaren Feuers gewisse Auskunft geben? Da glaubte man in dem brennenden Hause einen Schrei zu hören. Unmittelbar darauf wurde ein Fenster im zweiten Stockwerk aufgerissen. Wunderbarer Weise hatte das Feuer gerade dieses Stockwerk übersprungen. Aber wer sich da drinnen befand, war dennoch unrettbar verloren. Unten und oben brannte das ganze Haus. Ein Ausweg war nicht da, und nach einer Viertelstunde, vielleicht noch früher, mußte auch jene Etage von den Flammen ergriffen und verzehrt werden, und das ganze Hans zu einem einzigen brennenden Schutthaufen zusammenstürzen, mit ihm, was darin war. Und es war Jemand darin. Eine Dame erschien in dem Fenster.

„Ordinaire Romantik!“ werden meine Leser sagen. „Die Dame war doch jung?“ „Sie war sehr jung noch.“ „Und schön?“ „Gewiß, sehr schön!“ „Richtig, gewöhnliche Romangeschichte!“

Sie rief um Hülfe, laut, entsetzlich, in der Angst des Todes, Sie sprang in die Fensterbrüstung; sie wollte sich hinunter stürzen. Sie wagte, sie konnte es nicht. Sie rang verzweiflungsvoll die Hände. Es war ein furchtbarer Anblick. Ihr Geschrei um Hülfe wollte das Herz zerreißen. Und rund um sie her Dampf, Rauch, Flammen, Gluth, das Getöse der einstürzenden Mauern, das Gekrach der niederfallenden Balken, das Rasseln der Feuerspritzen, das Zischen der Wasserströme, das Rufen der Löschenden. Aber unter den Tausenden von Zuschauern herrschte eine Todenstille. Jedes Auge war nur nach der Unglücklichen hingewandt. Jedes Ohr horchte nur ihren Angstrufen. Es dauerte nur eine Minute, nur den ersten Augenblick der fürchterlichen Ueberraschung, der lähmenden Angst.

„Hundert Pfund!“ rief ein langer Engländer.

„Auch der stereotype Engländer mit seinen hundert Pfund war da!“ werden meine Leser wieder rufen. „Er wollte wohl wetten, ob die Dame doch noch herunterspringen werde oder nicht?“ Er bot sie für die Rettung der Dame, er bot zweihundert Pfund. Da wurde es hinter ihm laut. Er erhielt einen Stoß in die Seite und Jemand rief:

„Herr, haben die Engländer nur Geld und keinen Muth und keine eignen Arme und Beine? Wagen Sie sich selbst hinauf und fahren Sie da oben zum Teufel, aber hier unten scheren Sie sich zum Teufel mit Ihren zweihundert Pfund!“

Als der Engländer sich umsah, stand ein unheimlich aussehender Mensch hinter ihm, der in solcher Weise Deutsch mit ihm gesprochen hatte. Er verschwand vor Schreck in der Menge.

Wer war der Unheimliche? Niemand wußte es, aber die ganze Badewelt kannte ihn: Er hatte ein kaltes, bleiches Gesicht, einen stechenden forschenden Blick, Niemand hatte ihn lächeln gesehen. Wo er auch immer war, da mußte er ein Unglück, ein Verbrechen verkünden,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 581. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_581.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)