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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

No. 38. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Theater und Schule.
Von L. R.
(Fortsetzung.)



VI.

Vor dem Schulhause hielt der Wagen. Vater und Sohn traten hinaus, begleitet von Rosa und Schnurr. Der Tag, wo sich Alle wiedersehen wollten, war, wie vieles Andere, bereits festgestellt. So nahm man jetzt getrost und fröhlich Abschied. Der Wagen rollte dahin, und unter den Grüßen, die man sich gegenseitig noch zuwarf, so lange der Wagen sichtbar war, tauchte ein heiliger Ernst empor in Aller Herzen. Man gedachte still der Wichtigkeit des nun niedersinkenden Tages, – der mächtigen Wendung des Schicksals, die er gebracht, der Zukunft, welche an ihn sich knüpfen sollte.

Als der Wagen verschwand, stand Rosa eine Weile noch gedankenvoll.

„Woran denkst Du, Rosa?“ fragte Schnurr.

„An meine Eltern,“ antwortete Rosa, „ich wünschte, sie hätten diesen Tag erlebt!“ Als wollte sie die wehmüthige Stimmung, welche sich ihrer zu bemeistern drohte, zurückdrängen, ergriff sie Schnurr’s Hand und fragte lächelnd: „Und Du, Oheim? Was würdest Du wünschen, wenn Du auf den vergangenen Tag blickst?“

„Daß ich kein alter Junggesell geblieben sein möchte!“ entgegnete Schnurr. „Ein Glück, wie es dieser Tag brachte, kann doch nur im Familienleben erwachsen.“

Er hatte dies mit einem Anfluge von Wehmuth gesprochen. Um dieselbe auch bei ihm zu verscheuchen, gab Rosa dem Gange der Rede und Gedanken eine andere Wendung. Sie erwähnte die ersten Frühstunden, die Anfänge des Tages, und kam somit schnell auf die ABC-Buchblätter und deren stattgehabte Anwendung. Ein heiterer Zug ging nun durch ihre Unterhaltung.

Der Schulrath und Theodor unterhielten sich auch. Und als der Wagen an den „schwarzen Bär“ kam, und der Wirth an der Hausthüre erschien, erinnerten sich Beide ebenfalls der Anfänge dieses Tages. Sie sprachen von ihrem Eintritte in das Wirthshaus, von dem Lachen der Bauern, welches ihnen laut entgegen geschallt.

Da gedachte Theodor plötzlich des Umstandes, daß ja auch in dem „Anzeiger“, welchen der Dorfrichter vorgelesen, von einem alten ABC-Buche die Rede gewesen sei. – Als junger Criminalbeamter, als täglicher Inquirent fühlte er augenblicklich eine Vermuthung in sich aufbrennen. Er griff in die Seitentasche seines Rockes, in welche er im Schulhause jene bekannten zwei Briefe sammt den ABC-Buchblättern willenlos und ohne Absicht gesteckt hatte. Er zog die ABC-Buchblätter hervor. Der Schulrath freute sich, daß sie da waren, weil er sie ja zu seinen Revisionscuriositäten legen wollte.

„Habe ich doch im Strudel der Ereignisse versäumt, zum Dorfkrämer zu schicken, um nachzufragen, ob er auch die übrigen Blätter des Büchleins mir ablassen könne,“ hob er an; „erinnere mich mit daran, daß ich das späterhin nachhole.“

„Sind diese Blätter vom Dorfkrämer?“ fragte Theodor, ohne daß der Vater weder eine Wichtigkeit dieser Frage noch eine aufkeimende Besorgniß im Herzen seines Sohnes dabei ahnte.

„Vom Dorfkrämer – so schien es.“

„Du weißt es nicht gewiß?“

„Nein.“

„Und Schnurr?“

„Der schien sie eben vom Dorfkrämer zu haben. Wenigstens behauptete er, es sei Packpapier.“

„Nicht sowohl eingepackt, mehr eingerollt muß Etwas in das Papier gewesen sein. Besonders das eine hier zeigt Narben, welche ausgeglättet sind.“

„Das bemerkte ich auch, und wahrscheinlich hat das Schnurr gethan, um sie in Gebrauch zu nehmen und dann aufzubewahren.“

Theodor ließ den Wagen anhalten. Er rief den Wirth herüber und bat ihn, das Blatt herauszubringen, welches der Dorfrichter heute früh vorgelesen. Der Wirth brachte das Blatt, Theodor las. Er erblaßte, – der Diebstahl von 200 Stück Louisd’or war bei demjenigen Theaterdirector verübt worden, bei welchem auch Rosa eine Zeit hindurch engagirt war, und dessen Spielorte die Städte in der Nähe von Berlin gewesen waren, während er zuweilen auch in Berlin selbst spielte, wo er ein Nebentheater hielt.

Als er den Wirth wieder fortgeschickt hatte, sagte Theodor: „Nach einer Stunde fährt hier die Post durch. Mit ihr werde ich nach Magdeburg kommen. Fahre Du immer voraus, Vater. Ich muß zurück zu Schnurr, ich muß wissen, woher er diese Blätter bekam.“

Der Vater sah lächelnd ihn an und fragte: „Zu Schnurr allein? Nicht auch zu Rosa?“ Als Theodor aber sinnend stand und nichts darauf antwortete, sprach der Schulrath befremdet weiter: „Du kommst mir verändert vor, was hast Du?“

„Hier, lies die Anzeige von dem Diebstahl,“ sagte bewegt der Sohn, während er aus dem Wagen stieg, „und wenn nur das leiseste Mißtrauen gegen – – o Vater, es ist ja nicht möglich!“

Der Vater las. Theodor ging unruhig am Wagen hin und her.

„Möglich ist Alles,“ sagte ernst der Vater, indem er dem Sohne das Blatt zurückgab. „Eine wahre, beglückende Liebe muß sich auf gegenseitiges Vertrauen gründen. Gehe hin, sprich offen mit ihr.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 533. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_533.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)