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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Herr Schnurr stand mit gekrümmtem Rücken. Es war, als sei er gelähmt. Er sprach kein Wort, sah tief zu Boden. In seinen Händen hielt er zitternd zwei Blätter, legte dieselben bald in die Rechte, bald in die Linke, bald faßte er sie mit Beiden. Endlich seufzte er: „Ach, Herr Doctor! daß mir das passirt!“ „Lieber Herr Schnurr,“ sprach beruhigend der Schulrath und klopfte ihn auf die Schulter, „das ist nun vorbei. Ich kenne Sie ja seit vielen Jahren als tüchtigen Schulmann und als guten Menschen. Ich schätze Sie. Ueberdies stehen wir ziemlich in gleichem Alter,“ fuhr er theilnehmend fort, „und es thut mir leid, wenn Sie den Verweis, den ich Ihnen geben mußte, anders nehmen, als ich es erwartete.“

Der Schulmeister beugte sich noch tiefer und wischte sich die Augen.

„Sie weinen?“ fragte fast mit einem Anfluge von Unwillen der Schulrath, „worüber denn?“

„Ueber das Lob, welches der Herr Doctor mir geben,“ antwortete Schnurr gefaßt jetzt, und richtete sich auf.

„So ist’s brav!“ versetzte der Doctor, „ein richtiger Schulmann fühlt seine Würde! Was haben Sie denn da, Herr Schnurr?“

Der Schulrath griff nach den beiden Blättern, die Jener in den Händen hatte.

„Packpapier, weiter nichts als Packpapier,“ erklärte ruhig Herr Schnurr, „aber die zwei ABC-Buchblätter sind Schuld, sie verführten mich zu der – wie der Herr Doctor sich ausdrückten – zu der Spielerei.“

„Richtig, dergleichen Bilder und Verslein gab es sonst in Menge; jetzt aber sind sie eine große Seltenheit,“ sprach der Schulrath, indem er die Blätter betrachtete.

Die Blätter waren alt, fast abgenutzt. Man sah es, wie auf ihnen verschiedene Brüche und eingedrückte Narben wieder ausgeglättet lagen, und wie die Papiere zur Umrollung oder Einwicklung irgend eines Gegenstandes gedient hatten. Gedruckt auf ihnen standen mehrere bunte Bilder, z. B. auch ein Tischler, in der Hand ein Winkelmaß haltend, ihm gegenüber der Wolf mit aufgesperrtem Rachen, unter dem Bilde das vorhin erwähnte Verslein, „Gottlob! da stieg die Methode jetzt doch höher,“ sagte der Schulrath, „zu dieser hier wollen wir uns niemals wieder erniedrigen.“ „Niemals wieder,“ antwortete Herr Schnurr, und griff nach den Blättern.

„Lassen Sie mir diese Blätter, ich lege sie zu meinen Revisionscuriositäten,“ entgegnete der Schulrath, „solche Sachen sind jetzt rar. Vielleicht hätte der Krämer oder Kaufmann, von dem Sie Waare in diesem Papier empfingen, noch mehrere solche Blätter, vielleicht das ganze Büchlein? Ich würde es gern bezahlen. Von wem beziehen Sie Ihre Waaren?“

„Meine Waaren?“ fragte in sichtbarer Verlegenheit der Schulmeister. „Der Herr Doctor denken da an Kaffee und Zucker, und ich muß gestehen, ich weiß nicht, denn Reis, Zucker, Kaffee, Würzwaaren, der Herr Doctor dürfen annehmen, daß ich moralisch genöthigt bin, alle diese Dinge vom hiesigen Dorfkrämer zu beziehen.“

„Das würde ja unsere Nachfrage erleichtern.“

Da fiel im Garten ein Schuß, laut jauchzten die Kinder in der Schulstube.

„Großer Gott!“ rief zürnend der Schulrath, „eine schreckliche Wirthschaft, Herr Schnurr! und deshalb komme ich eigentlich!“ Schnurr hielt sich den Kopf und bückte sich, und seufzte: „Ein Doppelpistol!“

Das bestätigte sich auch sogleich. Es knallte zum zweiten Male, die Kinder in der Schulstube jauchzten wiederum hell auf. Schnurr bückte sich tiefer.

„Schrecklich, schrecklich!“ zürnte der Schulrath, „und so geht’s nun schon seit acht Tagen!“

„Gerade gestern vor acht Tagen,“ bestätigte Schnurr leise und furchtsam, „wenn sie nur nicht nochmals ladet!“

„Verhindern Sie das! ich befehle es Ihnen!“ rief mit dem Fuße stampfend der Schulrath.

Schnurr aber hatte sich noch nicht aus seiner gebückten Stellung erhoben, hatte noch die Hände nicht bewegt, mit denen er den Kopf hielt, da öffnete sich im Hinterraume des Hauses die Thüre, welche in den Obstgarten führte. Herein in’s Haus fiel hell die Sonne.



IV.

„Eine charmante Situation! ein prächtiges Bild!“ rief Rosa lachend und blieb auf der Thürschwelle stehen. „Ha, ha, ha! was gibt es denn hier? Aufgerichtet, Oheim! den Kopf empor! Wer dieser Herr auch sein mag, so tief darfst Du Dich nicht bücken! Empor, lieber Oheim, oder ich schieße!“ fügte sie halb ernst, halb scherzend hinzu und streckte das Doppelpistol in’s Haus.

„Gott im Himmel! so stehen Sie doch auf!“ befahl der Schulrath, während er schnell an die Wand sich drückte.

Schnurr verharrte in seiner bisherigen Lage und sprach tröstend: „Sie hat nicht geladen. Mit geladenem Pistol kommt sie nicht in’s Haus, das wäre gegen den Contract. Der Herr Doctor brauchen sich nicht zu fürchten. Der Schulkinder wegen habe ich mit ihr contrahirt, daß das Pistol im Hause niemals geladen sein darf. Den Contract hält sie; o sie ist edel!“ schloß er seufzend.

„Glauben Sie das nicht, mein Herr!“ sagte Rosa lächelnd und gefällig, indem sie jetzt mit feinem Anstand herbeigetreten war und sich verbeugt hatte. „Wäre ich edel – nicht wahr, Sie geben mir Recht?“ sprach sie lächelnd weiter, „wäre ich edel, so würde ich nicht sein, was ich bin. Zwar – Sie wissen wahrscheinlich noch nicht, was ich bin, und auch ich weiß noch nicht, was und wer Sie, mit dem ich die Ehre –“

„Der Herr Schulrath Doctor Werner,“ erklärte Schnurr leise.

„Aufrichtig gestanden, ich ahnte so Etwas,“ wendete sich Rosa mit aristokratischer Verneigung wieder zu dem Schulrathe, „man sieht es den Herren der Kirche und Schule sofort an. Nun sollen Sie auch sehen, was ich bin. Oder hast Du Deinem Herrn Oberst schon gesagt von mir?“ fragte sie nach dem Oheim hin.

„Nichts, noch nichts –“ antwortete Schnurr klagend.

„So klage doch nicht, so stehe doch auf!“ lachte Rosa, und betonte dann ernst und mit Pathos die Worte: „Im Namen Deines Herrn Gebieters gebiete ich Dir, daß Du Dich augenblicklich erhebest!“

Da Schnurr zögerte, ging sie hin und richtete ihn lachend empor.

„Aber Sie müssen doch sehen, wie ich bin!“ wendete sie sich wieder an den Schulrath, „der Oheim scheint Bedenken zu tragen, mich Ihnen vorzustellen.“

Auch stand Schnurr wirklich furchtsam in einiger Entfernung und sah bald auf die heitere Nichte, bald auf den ernsten Vorgesetzten.

Der Letztere verhielt sich noch immer schweigend. Die Erscheinung Rosa’s hatte ihn denn doch weit bedeutender überrascht, als er dies erwartet. Schön, frisch, jugendlich hatte er sich dieselbe wohl gedacht. Aber diese Augen, diese Stimme, diese Gestalt, diese Grazie, von welcher das ganze blühende Leben auch in der kleinsten Bewegung umflossen war, hatte er sich ja doch nicht denken können. Dazu die Kleidung, welche keineswegs theatralisch, sondern nur geschmackvoll und einfach war. Ein leichter Sommerhut bedeckte den kleineren Theil des braunen, reichen Haares. Ein Frühlingskleid, aus feiner, grauer Leinwand bestehend, zeigte die jugendlichen, reizenden Körperformen in erhöhtem Lichte. In dem schwarzen Ledergürtel, der nur nachlässig um den schlanken Leib gelegt war, saßen einige blühende Rosen, und zu diesen steckte sie jetzt lächelnd das feine Pistol.

„Nun keine Furcht mehr, mein Herr! Sie sind so ernst. Zürnen Sie mir? Und haben Sie meinem guten Oheim einen Verweis gegeben? Gewiß, sonst hätte er nicht vorhin die traurige Armensünderstellung eingenommen!“

Der Schulrath fuhr mit der Hand in die Brustöffnung seines schwarzen Fracks, warf bei den Worten, die Rosa soeben sprach, einen ernsten Blick auf dieselbe, und ging dann mit heftigen Schritten nach dem Ende des Hausflurs.

„Sie werden immer zürnender!“ rief Rosa heiter, „o wahrhaftig, auch an dieser Miene, an diesem Gange, an dieser Handversteckung in den Frack erkenne ich den geistlichen Herrn!“

„Fräulein!“ sprach jetzt der Schulrath ernst und mit abgewendetem Gesicht, „Ihr ganzes Betragen scheint wenig Rücksicht zu nehmen auf dieses Haus!“

„Scheint? – der Schein trügt!“ antwortete Rosa, „das werde ich Ihnen beweisen, und dabei sollen Sie zugleich sehen, was ich bin. Das blieb ich Ihnen ja schuldig. Aber bitte, Sie sind nicht bös, Herr Schuloberst? zürnen auch nicht dem lieben Schnurr?“

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 508. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_508.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)