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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

„Sein Zustand war merkwürdig hell!“ meinte der Arzt nachdenkend. „Man findet dies zuweilen vor einem nahen Ende –“

Felix schritt schrecklich aufgeregt wieder weiter.

„Sie haben nichts mit ihm vorgehabt? Mit Ihnen ist nichts vorgefallen, Felix?“ forschte der Doctor teilnehmend, während er seinen Rock zuknöpfte und nach dem Hute griff.

„Mit mir? Direct nicht! – Nein! Direct mit mir nicht!“ stöhnte der junge Mann. „Aber –“

„Aber mit Lenchen, nicht wahr? Es ist keine Indiscretion, die mich fragen läßt, Felix.“

„Mit Lenchen?“ fragte der junge Mann sehr gezogen, als müsse er sich erinnern, wer dies Lenchen sein könne.

„Mit Helene, wie Sie das Mädchen nennen!“ fiel Strodtmann nachhelfend ein.

„Was denken Sie denn, Doctor?“ fragte Felix frappirt. Ein helles Roth schlug über sein Gesicht, und sein Auge suchte verwirrt die stille Gestalt am Fenster, die voller Theilnahme jedem Worte folgte.

„Nun – daß Ihr Vater von Neuem heimgesucht ist. Nicht? Wer denn sonst? Zu wem soll ich denn kommen?“ fragte der junge Arzt ungeduldig.

„Zu Dahlhorst!“ rief Felix. „Zu dem unglücklichen Dahlhorst! Sie wissen ja –“

„Allmächtiger Gott!“ flüsterte der Doctor mit schnellem Verständnisse des Zusammenhanges.

„Sie wissen, wie abscheulich ich gehandelt –“ sprach Felix in voller Ueberwältigung fort. „Um es gut zu machen, fuhr ich zu ihm. Ich fand ihn in einem gräßlichen Zustande – Krämpfe entstellten ihn – o, welch ein fürchterliches Elend erträgt die zarte Frau – welch ein herzzerreißendes Elend!“

Strodtmann hörte die letzten Worte nicht mehr. Er warf sich in den Wagen und verschwand so rasch, wie Felix gekommen war.

Wie lange Lord Felix und Fräulein Elisabeth im Zimmer beisammen gewesen sind, ohne ein Wort mit einander zu wechseln, ist nicht genau zu bestimmen. Sie stand betäubt, die Stirn gegen die Hand gelehnt, am Fenster, und er ging in regelmäßiger Wildheit im Zimmer hin und her.

Endlich stand er still, und zwar in möglichster Entfernung von ihr, am Ofen.

„Hätte ich zur rechten Zeit geholfen!“ sprach er mit ganz verändertem, sehr festem Tone. Lord Felix war eine Natur, worin Sentimentalität nicht wuchert. Er sprach der Romantik aller Romanschreiber Hohn, die ihre Helden Stunden lang in leidenschaftlich bewegten Stimmungen agiren lassen. Lord Felix konnte sehr ergriffen werden, aber ihn incommodirte dies Gefühl, deshalb warf er es ab. Er konnte sehr ärgerlich werden, allein wenn er einige Proben seines Zornes von sich gegeben, so fand er es langweilig, darin zu verharren. Er besaß eine ziemliche Portion Egoismus und hielt stets für zweckdienlich, sein eigenes Wohlbehagen, das unter allen Gemüthsaufregungen litt, mehr zu berücksichtigen, als schöne, erhabene, rührende und aufgestörte Gefühle.

Genug, Lord Felix sagte so ruhig wie nur möglich: „Hätte ich zur rechten Zeit geholfen!“ – und er verrieth damit der aufhorchenden Elisabeth sein ganzes Vergehen.

„Sagen Sie mir die Wahrheit, Fräulein Elisabeth,“ fügte er fest hinzu, „Sie verdammen mich?“

„Nein!“ antwortete das junge Mädchen und hob traurig ihre Augen empor, um sie ohne alle Verlegenheit auf seine Blicke treffen zu lassen.

„Sie verabscheuen mich? – Ihre Augen sagen dergleichen!“

„Nein!“ antwortete sie ebenso wie vorhin.

„Sie verachten mich?“

„Verrathen meine Augen dergleichen?“ fragte sie sanft. Ihre Stimme klang unendlich mild.

„Was ist’s denn, was Sie fühlen?“ fuhr er auf.

„Mitleid!“ flüsterte sie, indem sie die Augen wieder senkte, aber unwillkürlich ihm näher trat.

„Mitleid? Mitleid? Bedauern muß ich mich lassen? Hassen Sie mich lieber, Elfi – hassen Sie mich! – Elfi! – Elfi! Es ist weit mit mir gekommen, wenn Sie mich bedauern und bemitleiden!“

Noch nie hatte der junge Mann die Benennung gewagt, welche nur im traulichsten und süßesten Momente der Bruderzärtlichkeit über Strodtmann’s Lippen ging. War es ein Wunder, daß das junge Mädchen ihre eisenfeste Haltung etwas verlor und sehr bleich wurde? Felix bemerkte ihre Blässe.

„Im Bedauern liegt Nichtachtung – im Mitleiden geringschätzendes Erbarmen! Weshalb fühlen Sie Mitleid, Elfi? – sprechen Sie die Wahrheit!“

„Weil ich Ihr Glück gefährdet sehe!“ entgegnete Elisabeth ganz ruhig.

„Mein Glück –?“ Die Unterredung des Doctors mit seinem Vater fiel ihm ein.

„Glauben Sie etwa an die Visionen meines irrsinnigen Vaters?“ fragte er hart und schonungslos.

Bevor Elisabeth ihrem hervorbrechenden Unwillen, der sich deutlich in ihrer ganzen Haltung und in dem groß und fest aufgeschlagenen Auge aussprach, Worte geben konnte, setzte der junge Mann hinzu: „Ich leugne nicht, daß mein Vater Ursache zu seinen Träumereien gehabt hat. Ich habe mir mehr mit dem Mädchen zu schaffen gemacht, als nöthig gewesen wäre, mehr, als eigentlich gut ist, aber, Elisabeth – ich kann frei meine Augen zu Ihnen emporschlagen, denn etwas Unrechtes, selbst in strengster Bedeutung des Wortes, geschah nicht. Glauben Sie mir das?“

„Ja!“ antwortete sie mit dem vollen Bewußtsein ihres nun aufblühendes Glückes.

Der Wagen kam zurück, natürlich ohne den Doctor. – Felix wollte fort. Eine unsichtbare Macht schien ihn zu halten, als er Anstalt traf, das Zimmer zu verlassen.

Elisabeth stand ihm ziemlich nahe. Er sah jeden Wechsel ihres Mienenspieles.

„Grüßen Sie Ihren Vater,“ sagte sie mit einem unbeschreiblich sanften Lächeln, das nicht ohne Verlegenheit war, „und sagen Sie ihm, daß ich bereit sei, seinem Anerbieten Folge zu leisten.“

Er blickte sich um. Das volle Verständniß dieser Bestellung legte sich auf seine Seele und rüttelte seinen Zorn wach.

„Ich glaube, Sie heiratheten eher einen alten Mann, ehe Sie sich zu der Herablassung entschlössen, einem jungen Anbeter eine Spur von Zärtlichkeit zu verrathen!“ fuhr er auf.

„Ganz gewiß,“ entgegnete sie, „denn über die reine, selbstlose Zärtlichkeit für jenen könnte sich kein Zweifel erheben.“

Zornig wendete er sich wieder ab und schritt vorwärts. Sie folgte ihm willenlos. Wenn er jetzt sie verließ, ohne das lang bewahrte Wort der Erklärung zu sprechen? Eine unnennbare Angst hob ihre Brust in heftiger Wallung. Beherrscht von ihrer tiefen, streng versteckten Zärtlichkeit stand sie an der Schwelle still. Vor diesem Sturm der Gefühle, der sich so jähe über sie geworfen, daß sie beinahe ihre Selbstherrschaft verlor, schwand die Kälte ihres Stolzes. Sie hatte nie den Wallungen des Herzens eine Stimme gestatten wollen, allein die Uebermacht der Liebe beugte sie.

Er stand abermals still und zögerte, die Thür zu öffnen. Dann wendete er sich blitzschnell, um irgend ein böses oder gutes Wort zu sprechen. Aber er kam nicht dazu. Er sahe nur die leidenschaftliche Bewegung in den Augen Elisabeth’s, und – im Nu hielt er sie in seinen Armen, Augen und Lippen ohne Scheu und ohne Zartsinn mit sehr verrätherischen Küssen bedeckend. Die schroffe Weiblichkeit Elisabeth’s war zur glücklichen Minute überwältigt gewesen, um die Hartnäckigkeit des Mannes zu besiegen.

„Komm – komm zu Deiner Mutter!“ flüsterte er nach dem ersten glücklichen Momente dieser wortarmen Liebeserklärung.

Elisabeth, von seinen Armen umschlungen, folgte willig. Glücklicherweise fanden sie Madam Strodtmann nicht rettungslos in Scheuer- und Putzgedanken versunken. Sie begrüßte das Paar mit unverhehlter Freude.

„Nun zu meinem Papa!“ drängte Felix, der voller Ungeduld schien, die ganze Welt von dem Siege in Kenntniß zu setzen, den er, freilich nur durch Zufall, erfochten hatte. Da stutzte Elisabeth. Sollte sie sich in einem Hause als Braut präsentiren, wo ein Mädchen von untergeordneten Verstandesbegriffen vielleicht in ihren Rechten sich gekränkt glauben konnte? Ihr Stolz steifte sich wieder auf und machte Miene, mit Herrschergebehrden einen Entschluß zu fassen.

„Deine Weigerung würde mir ein Beweis Deines Mißtrauens sein,“ sprach Felix sehr lordmäßig. „Du warst so sehr bereitwillig, meinem allen Papa Freude zu machen. Nun, meinst Du nicht, Elfi, liebe Elfi, daß er Deinen Abendgruß als das glücklichste Ereigniß seines kümmerlich beschränkten Lebens ansehen wird?“ – Elisabeth lächelte und befahl ihren Hut und ihr Tuch.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 484. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_484.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)