Seite:Die Gartenlaube (1859) 458.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Es waren keine bittere Thränen. Aber andere Thränen mußte ich dann gleich sehen, und diese waren bittere. Es war auch eine deutsche Frau bei mir, verbannt mit Mann und Kindern aus ihrem Vaterlande.

„Warum können wir solche Feste nicht haben?“ weinte sie. –

Heute beginnt hier das eidgenössische Schützenfest. Heute Morgen um sechs Uhr verkündeten zweiundzwanzig Kanonenschüsse von dem alten Lindenhofe seinen Anfang.

Die Schweiz hat zweiundzwanzig Cantone. Die Schützenfeste sind die ältesten schweizerischen Volksfeste, sie sind die ureigensten Feste des freien, wehrhaften Volkes. Jede größere Gemeinde, jeder Canton hat sie. Die gesammte Schweiz hat ihr eidgenössisches Schützenfest. Auch dieses eidgenössische Schützenfest besteht schon seit vielen Jahren, immer in ungeschwächter Kraft und Frische. Viel trägt dazu bei seine Bedeutung als eine politische Macht in der Eidgenossenschaft, und das klare Bewußtsein dieser Macht im Schweizervolke.

Wenn alle zwei Jahre – alle zwei Jahre wird das eidgenössische Schützenfest gefeiert – an dreißigtausend freie, wehrhafte Männer, die besten Schützen aus allen Theilen der Schweiz, der Kern der Wehrkraft des Landes, mit ihren Waffen, mit ihrer von keinem Volke der Welt übertroffenen Geschicklichkeit in deren Handhabung, mit ihrem Bewußtsein, daß, wenn es gilt, das Vaterland überall zuerst auf sie blickt und sie die Ersten zu dessen Hülfe und Vertheidigung sind, wenn die zusammenkommen, dann muß nothwendig manches ernste und gewichtige Wort fallen über das Vaterland, über dessen Lage, über das, was das Volk will, darüber, wie die Herren in Bern, die eidgenössischen Räthe, den Willen des Volkes auch treu und richtig aussprechen und ausführen; und das Wort, das so fällt, bleibt nicht vereinzelt; es wechselt in gemeinsamer Besprechung; aus der gemeinsamen Besprechung wird gemeinsame Berathung; aus dieser gehen Beschlüsse hervor. Still und ruhig und anspruchslos, nicht mit Ostentation und Demonstration, nicht um sofort und als Nationalbeschlüsse zu wirken oder nur sich geltend zu machen. Aber Jeder trägt sie in seinen Heimathscanton, in seine Heimathsgemeinde zurück, und dort sagt er: „Das haben die Männer auf dem eidgenössischen Schützenfeste beschlossen.“ Und so wird es das ganze Land und alles Volk gewahr, was die Schweizermänner auf dem Schützenfeste wollen, und wenn es gut und recht ist, so billigt es das ganze Land und alles Volk, und auch die Bundesräthe müssen es billigen und ausführen. So ist das eidgenössische Schützenfest eine Macht in der Schweiz, eine große Macht; schon seit vielen, sehr vielen Jahren; und Herren der Bundesräthe, wenn sie mitunter kein gutes Gewissen haben möchten, was Einzelnen ja auch in einer Republik wohl passiren kann, denken gewiß nicht ohne Angst an das eidgenössische Schützenfest.

Desto mehr freut sich alle andere Welt darüber. Das zeigt Zürich heute und zeigte es auch schon gestern. Den ganzen Tag über war gestern rühriges Leben in Stadt und Umgebung. Ueberall wurde noch die letzte Hand angelegt, um Häuser, Plätze und Straßen zu dem Feste zu schmücken. Unterdeß rückten die ersten Gäste ein. Es waren Deutsche, diese ersten Gäste, die Bremer Schützen. Gegen halb fünf Uhr Nachmittags kamen sie auf dem Bahnhofe an. Tausende von Menschen erwarteten sie da; die Comités des Festes standen zu ihrem Empfange bereit, an ihrer Spitze der Magistrat der Stadt Zürich. Ein Hurrah empfing sie, dann eine Rede des Stadtpräsidenten (Heß); dann, nachdem H. v. Heimann, eidgenössischer Consul in Bremen, eben so herzlich geantwortet, ein auf dem Bahnhofe errichtetes Zelt mit Erfrischungen; und es ist ein vortrefflicher Wein, der Schloß-Winterthurer, den der Magistrat von Zürich in seinen Kellern führt. Da ging wohl Manchem das Herz auf. Auch mir ging es auf, aber über etwas Anderes. Sieben Jahre lebe ich jetzt hier in dem fremden Lande, und wenn auch in dieser Zeit manch’ liebes und freundliches Gesicht aus der Heimath zu mir hergekommen war, ich hatte sie doch nur vereinzelt gesehen. Da standen gestern auf einmal sechzig bis siebenzig Männer aus dem deutschen Norden auf dem schweizerischen Boden vor mir. Und Alle herrliche, kräftige Gestalten und so blond und doch so frisch und selbst so stolz. Sie kamen ja aus einer deutschen Stadt, die mehr Freiheit hat, als irgend eine andere Stadt Deutschlands, und sie standen auf befreundetem freiem Schweizerboden.

Eine Stunde später traf, gleichfalls auf dem Bahnhofe, die eidgenössische Schützenfahne ein.

Das eidgenössische Schützenfest wird, wie ich vorhin sagte, alle zwei Jahre gefeiert; Stadt und Canton wechseln. Zuletzt war es, im Juli 1857, in Bern gewesen. Bei dem dortigen Schützenverein war damals die eidgenössische Schützenfahne zurückgeblieben. Heute mußte der Verein, bei Eröffnung des Festes, sie dem hiesigen Verein überliefern. Gestern kamen sie damit an. Andere, Berner Schützenfahnen, begleiteten sie. Es war ein stattlicher Zug. Alle jene Tausende von Menschen, die die Bremer empfangen hatten, waren auch zu dem Empfange der Berner noch da; auch jene Comités und der Züricher Magistrat. Eine Compagnie Züricher Scharfschützen hatte sich zu ihnen aufgestellt. Musikchöre standen zu den Seiten.

Als die Fahne aus einem Eisenbahnwagen ersichtlich wurde, dröhnte ein Kanonenschuß in das Thal hinein, die Musikchöre spielten. Der Berner Zug hatte sich unterdeß auf der einen Seite geordnet. Auf der anderen Seite standen in langer Linie die Züricher Schützen, die Scharfschützen, die Bremer und die verschiedenen Empfangscomités. Vor der Mitte der Linie das Centralcomité des Züricher Schützenvereins, an seiner Spitze dessen Präsident. Zu ihm hin begab sich der Zug der Berner; ihm gegenüber machte er Halt. Die Musik und das Hurrah all der Tausende von Zuschauern schwieg. Aus der Reihe der Berner trat eine hohe, starke, kräftige Gestalt hervor. Es war der Oberst Kurz aus Bern, seines eigentlichen Zeichens ein tüchtiger Advocat, nebenbei einer der tüchtigsten Generale des schweizer Heeres, Präsident des Berner Schützenvereines. In seiner besonderen Verwahrung war seit zwei Jahren die eidgenössische Fahne gewesen. Er hatte sie an Zürich abzuliefern.

Ihm gegenüber stand eine andere hohe Gestalt, feiner, mit einem geistvollen und klugen Gesichte, der Präsident des Züricher Schützenvereins, der erste Präsident der Regierung des Cantons Zürich, Dr. Dubs. Er hatte die Fahne für die nächsten zwei Jahre in Empfang zu nehmen. Aber noch nicht gestern. Mit einem kräftigen Handschlage begrüßten sich die beiden Männer.

Sie hatten sich schon öfter gegenüber gestanden, aber anders, als Gegner, manchmal als heftige Gegner, und doch zuletzt, wenn es galt, als Männer desselben Landes, als Söhne eines Vaterlandes. Beide gehören der eidgenössischen Bundesversammlung an. Bern und Zürich haben manchmal auseinandergehende Interessen; Rivale sind sie immer. Bern ist der größte Canton der Schweiz, Zürich, so sagen die anderen selbst, der intelligenteste. Dazu nehmen jene beiden Männer verschiedene politische Standpunkte ein. Kurz gehört zu der aristokratischen Partei Berns, Dubs ist durch und durch Demokrat; aber treue, ehrliche, brave schweizer Männer sind sie Beide.

So standen sie auch heute einander gegenüber, und so begrüßten sie sich mit dem kräftigen Handschlage und mit eidgenössisch brüderlichen Worten. „Wir bringen Euch die eidgenössische Fahne nach Zürich,“ sagte Kurz. „Aber für heute halten wir Berner sie noch in unseren Bärentatzen. Erst morgen liefern wir sie an Euch ab.“ Die kräftigen Worte klangen gut von dem Munde des kräftigen Soldaten.

„Die Fahne,“ erwiderte ihm der feine Dubs, „die von Bern zu uns nach Zürich kommt, wird ein neues Pfand dafür sein, daß Zürich und Bern stets einig gehen, wo es das schweizerische Vaterland gilt.“

Zweiundzwanzig Kanonenschüsse hatten unterdeß zur friedlichen Begrüßung der eidgenössischen Fahne durch das Limmatthal gedonnert. Die Musik geleitete einen einzigen großen, schönen und imposanten Zug der Bremer, Berner und Züricher Schützen in die Stadt. Das schönste Wetter hatte die Feierlichkeit begünstigt.

Das schönste Wetter, die klarste Sonne begrüßte heute den ersten eigentlichen Festtag.

Wie im vorigen Jahre zum Sängerfeste, so ging ich auch heute am sehr frühen Morgen von meiner einsamen Wohnung vor den Thoren Zürichs wieder in die Stadt. Ruhe und Stille war auch heute noch überall umher. Wir haben auch heute wieder Sonntag. In dieser Sonntagsruhe lag unten im Thale vor mir das schöne Zürich da; hinter ihm der klare, blaue See; rechts vom See das grüne Uetli; hinten in weiter Ferne die ganze Reihe der ewigen Schneeberge, vom Glärnisch mit seinem leuchtenden Vrenelis Gärtlein, bis weit rechts zu dem kühn emporragenden Titlis hin. Ueber Allem der tiefblaue Himmel.

Ich trat in die Stadt. Es war so still darin, denn die Menschen ruheten noch; sie hatten vielleicht bis spät in die Nacht an dem Festschmucke der Häuser gearbeitet. Manche Andere hatten auch

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 458. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_458.jpg&oldid=- (Version vom 12.8.2023)