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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

aller organischen Bewegung, in Allarm bringen und wie leicht ein einsames Beisammenleben in romantischer Gegend unter der Mitwirkung eines wilden, schönen Sommerabends männliche Uebereilung wecken kann, davon wußte der gute, etwas phlegmatische Doctor Strodtmann trotz aller medicinischen Kenntnisse und aller ärztlichen Erfahrungen doch nicht hinlänglich Bescheid, um das Aergste zu erwarten.


II.

Wolfenberg war ein Dorf ganz in der Nähe der Residenz, das sich zwischen zwei waldigen Hügelketten als eine einzige lang ausgedehnte Straße bis zu einigen grotesken Felsengebilden hinanzog. Durch die Lage begünstigt, hatte sich der Wohlstand der Dorfbewohner in den letzten Jahrzehnten bedeutend gehoben, als es Mode wurde, einen Theil des Sommers in frischer, freier Luft zuzubringen. Auch einige Herrschaften in der kleinen, frei und schön gelegenen Residenz fanden die Luft in Wolfenberg für ihre Athmungswerkzeuge zweckdienlicher, und baueten sich kleine Villen voll prunkhafter Ländlichkeit in dem geräumigen Thale, um nicht immer in der Residenz und doch auch nicht allzufern davon zu sein.

Etwas ab vom gewöhnlichen Straßendamme, aber doch nicht aus der Gesichtsweite desselben hatte der Großhändler Mettling, der Vater des Lord Felix, ein Häuschen erbaut, das klein, aber im höchsten Grade bequem und zum Sommervergnügen geeignet war.

So lange der Großhändler Mettling gesund gewesen war und eine Gattin besessen hatte, wurde dies Gartenhaus nie bewohnt, sondern nur als Ziel einer Spazierfahrt, eventualiter Spaziergang, benutzt. Jetzt, wo der alte Herr Wittwer und ein hülfloser, vom Nervenschlage reducirter Krüppel war, nahm er seinen Sommeraufenthalt dort, um ungenirter in seinem Rollstuhle spazieren fahren zu können.

Sein Sohn Felix, gutmüthig und immer heiter, besuchte ihn täglich. Seitdem aber Lenchen, der Madame Strodtmann Hausmamsell, zur Pflege des alten Herrn engagirt worden war, da hatten sich diese täglichen Besuche bedenklich geändert.

Lord Felix fand die Residenzluft plötzlich nicht zuträglich für seine Luftröhre, und zog es vor, sein brillantes, fürstlich decorirtes Schlafgemach gegen das kleine winzige Schlafcabinet in Wolfenberg zu vertauschen.

Vierzehn Tage hatten hingereicht, den jungen Mann in Ketten zu schmieden, die er in bewußtlosem Behagen sehr hübsch fand.

An dem Tage, wo er auf ausdrücklichen Befehl des alten Herrn den Doctor Strodtmann zu einem Besuche in Wolfenberg auffordern ließ, war seine Stimmung ein wenig gestörter als sonst, was jedoch dem hübschen Lenchen keineswegs zum Nachtheil zu gereichen schien. Mittag war vorüber. Der alte Herr, reizbar und mürrisch, zänkisch und verdrießlich, hatte sich zu seinem Mittagsschläfchen in sein Zimmer führen lassen.

Der Regen verscheuchte Herrn Felix aus der Veranda, woselbst er mit Paschaeleganz seinen Mocca zu trinken beliebte. Er verfügte sich in das sogenannte Gesellschaftszimmer, und rief bei seiner Flucht vor dem stark herniederauschenden Regen heiter in den Hintergrund des Häuschens hinein:

„Helene – ich bin im Salon, wenn Sie mich suchen sollten.“

Gleich darauf erschien das in Helene metamorphosirte Lenchen melodisch kichernd auf der Schwelle des Salons, und schwebte mit der Grazie einer – Kammerzofe, trippelnd und gaukelnd, wie eine Tänzerin vom Fach, auf den jungen Herrn zu, der ihr mit Sultansfreundlichkeit den schönen, äußerst weit entblößten runden Arm klopfte. Lenchen war unbestritten ganz allerliebst und mit ungewöhnlichen Reizen geschmückt. Wenn solche Vorzüge ausreichend sind, ein Mädchen aus dem Volke zu der Stellung höheren Ranges würdig zu machen, so hatte Lenchen Anwartschaft darauf. Schöne, funkelnde Augen, rosige Wangen, weiße Zähne, blondes reiches Haar und ein üppiges Lippenpaar. Auf allen diesen Reizen lag aber der Stempel der Gewöhnlichkeit. Es war ein Kuchengesicht in aller Form. Eben so wenig anziehend erschien einem reinen Blicke die Ueppigkeit ihres Wuchses, dem sie durch eine gewagte Indecence Anziehungskraft verleihen zu wollen schien. Die Hitze des Sommers mußte die Entschuldigung für weitentblößte Schultern herleihen, und die Art, wie Lenchen bisweilen Athem schöpfte, ließ eben so gut eine innere als äußere Wärme erwarten.

Lord Felix war niemals ein Kostverächter gewesen. Seine Augen zeigten also ein stilles, glimmendes Feuer, als das junge Mädchen ihm schnell nahe trat und mit verführerischer Demuth seine Liebkosung hinnahm, die er ihrem hübschen Arme angedeihen ließ.

Er sah sie, in seiner behaglichen Stellung verbleibend, mit warmen Blicken an, und sie blickte mit eben so warmen, aber etwas listigern Augen zu ihm nieder. Dabei verirrte sich ihre geliebkosete Hand zuerst auf seine Schulter, als er den Arm um ihre Hüfte schlang, und machte Miene, einen Kreislauf um seinen Hals zu wagen.

„Was wird denn aus uns?“ fragte der junge Herr mit einer Manier, die viel von Herablassung in sich trug, aber auch eben so gut einen schon gereiften Entschluß zu verrathen Miene machte. Er liebte es überhaupt, sich nicht bestimmt auszudrücken, und fand grundsätzlich stets das einfachste Wort für erhabene und edele Gedanken.

„O – ich weiß, daß ich einem edlen Männerherzen trauen kann!“ flüsterte Lenchen schmachtend. „Was Sie beschließen, ist – mein Himmel!“

Der junge Mann lächelte. Der „Himmel“ war etwas unpassend angebracht. Aber es schadete nichts.

„Mit dem Papa ist trotz seiner Hinfälligkeit nicht zu spaßen – außerdem ist mir Scandal im Hause unangenehm. Aber die Trennung von meiner hübschen Helene würde mir nichts weniger als angenehm sein –“

„Häuser trennen ja nicht, so lange noch Thüren darin sind –“ schmachtete das schöne Mädchen in lächerlicher Naivetät, und neigte sich etwas gewagt zu ihm nieder.

„Ach, das wäre unbequem. Nein, mein süßes Helenchen muß hierbleiben, bis –“

Lenchens ganzer Körper erzitterte vor Wonne bei diesem „bis“. Unschuldige Thränen lösten sich von ihren holdgesenkten Wimpern – sie ahmte ganz gewiß jene Heldin nach, die das Glück gehabt hatte, einen Grafen zu begeistern. Aber „mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten“ – ein Schatten verdunkelte in diesem schicksalsschweren Augenblicke das niedrige Fenster, das schwarze, wassergetränkte Zelt eines Regenschirmes glitt daran vorüber, und Lord Felix sah zu seinem grenzenlosen Erstaunen eine leichte, elegante Frauengestalt in der Veranda erscheinen, die für den ersten Moment nur mit dem Schließen ihres triefenden Schirmes beschäftigt war.

Als würde er von einem bösen Geiste gejagt, so gewaltsam erhob sich der junge Herr von seinem gefährlichen Sitze, den Lenchen zu theilen Anstalten traf, und flüchtete mit den leisen Worten:

„Lassen Sie die Dame eintreten – ich komme sogleich zurück –“ durch eine Seitenthür in sein Schlafcabinet.

Rasch gefaßt, trat Lenchen nach der Veranda hinaus und hieß die Dame, in der sie sogleich die Assessorin von Dahlhorst erkannte, willkommen.

Frau von Dahlhorst wendete sich mit einigen Entschuldigungen zu ihr, überließ ihr aber Mit der Gelassenheit der Dame einer Dienerin gegenüber willig und gern die weitere Sorge für ihren Schirm. Das holde, blasse Gesicht der zarten Frau färbte sich mit einer ganz absonderlichen Röthe, als sie dabei fragte, ob sie Herrn Felix Mettling in Wolfenberg anträfe und ob sie ihn nicht sogleich allein sprechen könne.

Lenchen richtete sich mit einer gewissen Würde empor und bat sie, nur näher zu treten.

„Melden Sie mich,“ bat die junge Dame leise und richtete ihren Blick, in dem Wolken schwebten, suchend in dem Salon umher, der offen stand.

„Das ist nicht nöthig, gnädige Frau,“ antwortete Lenchen geziert. „Er hat sie gesehen, und wird sogleich wiederkommen!“

Nach einem ziemlich verwunderten Blicke über das „Er“ ließ sich Frau von Dahlhorst in einem der Fauteuils nieder, und dabei trat eine sichtliche Erschöpfung hervor, die sie auch zwang, ihre Stirn auf einige kurze Momente in die Hand zu stützen.

Natürlich sprach sie darüber nicht, und da Lenchen in der Voraussicht ihrer baldigen Ebenbürtigkeit sich nichts vergeben wollte, so fragte diese auch nicht darnach.


(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 452. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_452.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)