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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

No. 30. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Volkesstimme.

Criminalgeschichte von J. D. H. Temme.
(Schluß.)

Als nach dem ersten Feuerrufe die Zelle, in der Ansos Szellwat mit mehreren Gefangenen faß, geöffnet war, hatten dieselben zum Zweck des Löschens und Reitens zusammengehalten; ihn jedoch hatte von dem Momente an kein Einziger wieder gesehen; er war verschwunden geblieben. Die später in dem Schutthaufen aufgefundenen männlichen Leichname waren sämmtlich erkannt; der seinige war nicht darunter. Er mußte also während des Brandes entkommen sein.

Auch Madline Lenuweit war seit dem Feuer spurlos verschwunden. Aber von ihr wurde vermuthet, daß sie in den Flammen ihren Tod gefunden habe. Eine Gefangene hatte sie während des Brandes gesehen; sie war in einem der langen Corridore des brennenden Gebäudes wie eine Wahnsinnige umhergerannt. Es schien, daß sie den Ausweg durch Rauch und Flammen nicht habe finden können. Die Gefangene hatte ihr zugerufen, sie hatte aber den Ruf nicht gehört; sie mußte die Besinnung verloren haben. In derselben Gegend wurde später unter den verbrannten Trümmern ein vollständig verkohlter weiblicher Leichnam gefunden. Erkennen konnte ihn Niemand; aber er konnte nur der ihrige oder freilich auch der einer gleichfalls seitdem vermißten Szamaitin sein.

Gleich nach dem Brande waren hinter Ansos Szellmat Steckbriefe erlassen worden, und zur Vorsorge auch hinter Madline Lenuweit; sie waren aber ohne Erfolg geblieben, – selbst da noch, als ich einige Jahre später nach Litthauen kam, und auch, als ich mehrere Jahre nachher aus der Provinz wieder versetzt wurde. – Die Geschichte von Ansos Szellwat und Madline Lenuweit hatte ich oft gehört und als eine vielfach interessante selbst in den Acten gelesen. Sie stand heute wieder lebendig vor mir. Um so lebendiger, je mehr die Angst mich ergriff, daß ich jetzt, nach Jahren, die Verbrecher wieder gefunden habe, daß Madline Lenuweit, die unglückliche Verführte, in dem Wagen vor mir sitze, das blasse, von Angst und Schmerz verzehrte liebende Weib, die Mutter des Säuglings, der an ihrer Brust schlummerte. Ich wagte nicht, sie anzusehen, um ihr meinen Verdacht nicht zu verrathen, und doch wollten meine Augen nicht von ihr lassen. Ich hatte hundert Mal die Namen Madline Lenuweit und Ansos Szellwat auf der Zunge, aber ich konnte sie nicht aussprechen. Und ich mußte es doch einmal. – Ich fuhr zwei angstvolle Stunden mit der unglücklichen Frau. Aber ihre Angst war noch größer, als die meinige. Wir kamen endlich in dem Dorfe an, in welchem Heimann gefangen gehalten wurde. Er befand sich noch in dem Gemeindehause, von der Menge bewacht. Aber diese hatte seit der Ankunft der schon vor mir eingetroffenen Gensd’armen, die mich angekündigt hatten, sich ruhig verhalten. Es muß hart kommen, wenn das deutsche Volk zur wirklichen Ausübung der Lynchjustiz greifen soll. Als ich versicherte, daß sofort schleunige und unparteiische Untersuchung erfolgen und den Schuldigen strenge Strafe treffen werde, wurde der Gefangene mir ohne alle weitere Widerrede ausgeliefert. Am eifrigsten für die Auslieferung sprach der kleine, alte Bauer, der zuerst bei mir den Verdacht der verübten Diebstähle auf Heimann zu lenken gesucht hatte. Er war mit vielen anderen Befohlenen da, und er hatte jetzt Muth, wie ein Löwe.

„Der Herr weiß Alles,“ versicherte er der Menge. „Ich habe ihm Alles mitgetheilt und wir können uns ruhig auf ihn verlassen. Der Dieb, der Räuber wird seiner Strafe nicht entgehen. Ja, Volkesstimme ist Gottesstimme. Und gezeichnet hat Gott den Menschen mit dem echten, richtigen Kainszeichen.“

„Ja,“ sprachen die Anderen ihm nach, „das Kainszeichen trägt er im Gesichte, und Volkesstimme ist Gottesstimme.“

Sollten sie Recht haben, wenn gleich nach einer ganz anderen Richtung hin, als sie meinten?

Ich verfuhr sofort mit der Untersuchung über den Vorfall der Nacht und nahm die Verhandlungen in dem Gemeindehause des Dorfes vor, streng nach den Vorschriften des Gesetzes. Namentlich mußten sämmtliche Personen, außer den jedes Mal zu vernehmenden, sich entfernen. Ich begann mit dem Verhöre des angeblich zuletzt Bestohlenen, Keller mit Namen. Er war ein kleiner, feiner, frommer, stiller, milder Mann. Man mußte ihn sehr genau und scharf ansehen, um in dem heilig gen Himmel empor oder demüthig zur Erde niederschauenden und daher jedes Menschen Blick meidenden Auge die tiefe, lauernde Verschlagenheit zu entdecken. War er der Dieb und nicht der Bestohlene, so hatte ich jedenfalls einen schweren Stand mit ihm.

„Sie sind heute Nacht bestohlen?“

„Ja, und dazu räuberisch überfallen.“

„Erzählen Sie den Hergang.“

„Ich habe mir mit Gottes Hülfe ein kleines Capital gespart. Die Welt ist schlecht; man hört überall von Diebstählen. Ich wohne hier allein, am Ende des Dorfes, da muß ich mein Geld verwahren, so gut ich kann; daher vergrub ich es in meinem Garten, an einer Stelle, an der kein Mensch Geld vermuthete; denn in meinem Hause konnte man es überall suchen.“

„Wo war die Stelle?“ unterbrach ich ihn.

„In einem Blumenbeete nahe am Hause. – Heute Nacht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 421. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_421.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)