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verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Der am meisten getheilte und auch der dringendste, wahrscheinlichste war folgender.

In einem abgelegenen Dorfe an der polnischen Grenze lebte in guten Umständen eine Krügerswittwe, Namens Lenuweit. Sie hatte eine einzige Tochter, ein bildschönes Mädchen von sechzehn Jahren. Madline Lenuweit war der Augapfel ihrer Mutter, der Liebling Aller, die sie kannten. Sie verdiente es, denn sie war eben so brav, gut und sanft, wie sie schön war. Aber sie war unerfahren. Sie wurde, noch nicht volle siebenzehn Jahre alt, die Beute der Verführung.

An der polnischen Grenze wurde mancher Schmuggel getrieben. Die Schmuggler hielten sich in den Krügen der preußischen Grenzdörfer auf, um die günstige Zeit und Gelegenheit für ihr Gewerbe abzuwarten und schnell zu benutzen. Sie kamen oft aus entfernten Gegenden.

Als Madline eben sechzehn Jahr alt geworden war, quartierten neue Schmuggler sich in dem Kruge ihrer Mutter ein. Sie waren die Memel heraufgekommen, und hatten das Schmugglergeschäft bisher an der russischen Grenze getrieben, in der Nähe der Stadt Memel. Dort war es durch verstärkte Grenzsperre seit Kurzem gefährlicher geworden; es hatte daher zu stocken angefangen. An der polnischen Grenze mußte es um so mehr blühen. So hatten sie gedacht und so war es. Sie fanden Arbeit und Verdienst in Fülle und blieben. Es waren entschlossene, muthige litthauische Bursche. Unter ihnen zeichnete sich besonders Einer aus, Ansos Szellwat. Er war der entschlossenste, der muthigste, der gewandteste von Allen, er war der Anführer seiner Gefährten, mit denen er gekommen war, er wurde bald der Anführer sämmtlicher Schmuggler an der Grenze. Er wurde auch etwas Anderes, der Verführer der schönen, sanften, unschuldigen, unerfahrenen Madline Lenuweit.

Auch er war jung, der schönste Mann, den man sehen konnte, und so gewandt, so muthig, so unternehmend, und täglich in Todesgefahr, Und wenn er bei ihr war, wenn er neben ihr saß, war er so sanft und bescheiden, selbst schüchtern, und er schwor, daß sein Herz nur sie liebe, und daß er ohne sie nicht leben könne, und daß er, wenn sie nicht sein Weib werde, sich die erste beste Kosakenkugel durch das Herz jagen lasse.

Und er liebte sie wirklich. Sie liebte auch ihn.

Aber er war Schmuggler und hatte nichts, und sie war die einzige Tochter der reichen Krügerswittwe, und der Krug mit Allem, was dazu gehörte, mit Hausrath und Leinewand und Geld und ausstehenden Capitalien wurde künftig ihr Eigenthum. Ihre Mutter verweigerte hartnäckig die Einwilligung zu der Verbindung der Beiden. Da verführte er das Märchen, und die Mutter gab ihre Einwilligung, um ihr einziges Kind nicht der Schande zu übergeben.

Der Tag der verspäteten Hochzeit war angesetzt, da erschienen Criminalbeamte und Gensd’armen in dem Kruge, um Ansos Szellwat zu verhaften, – nicht den Schmuggler, aber den Dieb, den Räuber, der wegen vielfacher Verbrechen zu einer fünfundzwanzigjährigen Zuchthausstrafe verurtheilt und vor Jahr und Tag aus der Strafanstalt zu R. entsprungen war. Er wurde in das Zuchthaus zurückgeführt.

Wenige Tage darauf genas Madline Lenuweit von einem Knäblein, und brachte in ihrer Verzweiflung das Kind um. Sie wurde zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurtheilt. Die Richter hatten ihre Verzweiflung als einen Milderungsgrund angesehen und deshalb die gesetzlich verwirkte Todesstrafe ausgeschlossen. Madline wurde in dieselbe Strafanstalt zu R. abgeliefert, um dort ihre endlose Strafe zu verbüßen. Die Arme zählte gerade achtzehn Jahre!

Während ihrer Untersuchung war Ansos Szellwat aus dem Zuchthause zum zweiten Male entsprungen. Er mußte zu seiner Verlobten, denn er konnte nicht leben ohne sie und hätte, um sie nur einen Augenblick wieder zu sehen, zehnmal sein Leben gewagt. Er sah sie nicht wieder. Sie saß in der engen Haft der Untersuchung und nach einigen Wochen in dem Zuchthause, dem er entsprungen war.

Er konnte nicht leben ohne sie; er mußte wieder mit ihr vereinigt werden, er gestellte sich selbst, und kehrte freiwillig in die Strafanstalt zurück. Welch eine Gewalt hat und gibt die Liebe! Auch in dem Herzen des Verbrechers!

Er war mit ihr wieder unter einem Dache, und nach einigen Monaten sah er sie wieder. Die Gefängnißeinrichtung war damals noch vielfach mangelhaft in Preußen. Auch die Beaufsichtigung in den Gefängnissen ließ Vieles zu wünschen übrig, und jetzt noch wird nicht Alles sein, wie es sein sollte, und es kann auch nicht so sein. Nachlässige Gefangenwärter wird es zu allen Zeiten geben, mit oder ohne „zwölf Jahre gediente Unterofficiere“. Und die Gefangenen selbst – es gibt in der menschlichen Gesellschaft keine Gesellschaft, die mehr zusammenhielte, im Guten wie im Bösen, im Mitleiden wie im Haß, und vor Allem im Betrügen der Gefängnißbeamten. Aber es gibt unter ihnen auch Verräther. Daß Ansos Szellwat und Madline Lenuweit sich sahen, wurde verrathen. Sie wurden auf das Strengste von einander abgesperrt, und sahen sich nicht wieder.

Drei Monate später brannte die Strafanstalt ab. Das Feuer war angelegt.

Wer war der Thäter?

In dem Hause hatten sich über fünfhundert Gefangene befunden. Nur einer von ihnen konnte der Brandstifter sein. Auf keinen der Beamten fiel nur der geringste Verdacht. Von außen war das Feuer nicht angelegt, sondern in einem der großen Arbeitssäle des Hauses ausgebrochen. Von dort, wo des leicht brennbaren Materials sich so Vieles befand, Maschinen, Räder, Webstühle. Flachs. Hanf. Wolle und Aehnliches, hatte es mit rasender Schnelligkeit sich weiter verbreitet und bald das ganze Gebäude ergriffen und in Asche gelegt.

Es war am Abend des Geburtstags des Königs. Die Beamten der Anstalt hatten den Tag gefeiert und erwachten, als das Feuer sie weckte, aus um so schwererem Schlafe. Der Director der Anstalt war zu derselben Feier in der größeren Nachbarstadt abwesend. Um so mehr hatten die anderen den Kopf verloren. Das Unglück wurde entsetzlich.

Wer war sein Urheber? Der anfangs herumschweifende und sich zersplitternde Verdacht vereinigte sich bald. Ansos Szellwat hatte die Freiheit seines Lebens zum Opfer gebracht, um die Geliebte wieder zu sehen. Madline Lenuweit war in der Verzweiflung der Liebe zur Mörderin ihres Kindes geworden. Beide hatten sich wieder gefunden, waren auseinander gerissen und hatten sich nicht wieder gesehen.

Aber ermittelt wurde, daß ein eifrig frommer Gefangenaufseher, der mehreren Missions- und Tractätchengesellschaften angehörte und der, wo er konnte, fromme Tractätchen unter den Gefangenen verbreitete, solche Schriftchen auch an Ansos Szellwat und Madline Lenuweit abgegeben hatte. Der gewandte und schlaue Bursch hatte den frommen und eifrigen Beamten vermocht, manchmal die Schriftchen unmittelbar von ihm der Madline zu überbringen. So war der Gefangenwärter unzweifelhaft zugleich der Briefträger des Gefangenen geworden.

Die Mitgefangenen Madlinens hatten bald eine besondere Unruhe an ihr bemerkt, namentlich jedesmal, wenn sie ein neues Tractätchen bekommen hatte. Einzelne wollten auch in den kleinen Büchelchen eine Menge Nadelstiche gefunden haben, deren Bedeutung ihnen unerklärlich geblieben war. Hinterher blieb kein Zweifel über diese Bedeutung.

In den letzten Tagen vor dem dritten August hatte ihre Unruhe sich gesteigert. An dem genannten Tage selbst war sie eine fieberhafte gewesen. Bei dem Ausbruche des Feuers und des Feuerlärms und auch später halte man nicht auf sie geachtet. Jeder hatte nur mit sich selbst zu thun.

Ansos Szellwat, der schlaue, besonnene, erfahrene Verbrecher hatte sich mehr zu beherrschen gewußt. An ihm hatte man nicht die geringste Veränderung, keine Spur einer Unruhe wahrgenommen. Aber er wußte aus früherer Zeit, daß der Geburtstag des Königs von den Beamten der Anstalt gefeiert werde; daß des Abends früher als sonst die Arbeitssäle geschlossen wurden; daß dann an diesem Tage jeder Beamte zu der Feier eile und dränge; daß von dem Augenblicke der Schließung an jede Beaufsichtigung der Säle um so mehr aufhöre. In dem Saale, in dem er gearbeitet hatte, war das Feuer zuerst ausgebrochen. Ein Aufseher wollte sich gar erinnern, daß Ansos Szellwat der Letzte gewesen, der den Saal verlassen hatte.

(Schluß folgt.)

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verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1859, Seite 412. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_412.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)