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verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

erkennen konnte; ich konnte nicht einmal unterscheiden, ob sie von einer oder von mehreren Personen herrührten. Ich ließ mich jedoch die Mühe nicht verdrießen, sie weiter als blos an jener Stelle unter dem Fenster zu verfolgen; sie konnten gar zu wichtig werden. Anfangs war meine Mühe vergeblich, denn sie verloren sich in einem harten Erdwege; aber an dessen Ende hatte der Dieb über die Hecke des Gartens setzen müssen, und unmittelbar an derselben hatte der Weg eine weichere Stelle, und hier fand ich die frisch eingedrückte[WS 1] Spur eines Fußes. Ich glaubte noch zu erkennen, wie der Mensch namentlich den vorderen Theil des Fußes fest eingedrückt hatte, um mit einem tüchtigen Satze sich in die Höhe zu schwingen. Die Spur zeigte einen ziemlich kleinen Mannsfuß, der einen Schuh oder Stiefel ohne Absatz getragen hatte. Andere, besondere Merkmale hatte er nicht. Ich zeichnete auf einem Bogen Papier, den ich mitgenommen hatte, eine vollkommen genaue Abbildung der Spur.

Ich hatte diese Verfolgung der Spur allein vorgenommen, selbst ohne Wissen des Bestohlenen. Er war im Hause geblieben. Ich kehrte jetzt in dasselbe zurück, um unbemerkt meine Abbildung mit seinem Fuße wenigstens im Allgemeinen zu vergleichen. Ich hatte ihn in der Küche, dem gewöhnlichen häuslichen Aufenthalte, verlassen. Bei meiner Rückkehr war er nicht mehr da. Die Thür stand offen, und ich war daher durch diese ohne Geräusch eingetreten. Schon beim Eintreten hörte ich ein Gespräch in jener Stube neben der Küche, welche der Hausherr mir am gestrigen Abende als die gewöhnliche, zugleich zum Schlafgemache dienende Wohnung bezeichnet hatte. Ich unterschied die Stimmen von Mann und Frau. Ich mußte unwillkürlich hinhören. Sie sprachen nicht leise, sie schienen kein Geheimniß zu haben. Was ich hörte, ließ mich den Zweck meines Eintretens vergessen. Der Mann hatte der Frau den erlittenen Verlust mitgetheilt. Die vollständige Fassung, die er mir gegenüber bewahrt hatte, schien ihn dabei verlassen zu haben. Die Frau tröstete ihn. „Wir werden nicht zu Grunde gehen, lieber Mann.“

„Aber es ist ein großes Unglück.“

„Wir bedurften ja des Geldes nicht, wir haben hier Alles bezahlt. Außerdem leben wir sparsam, sind fleißig und der Hof ist einträglich. Es fehlt uns an nichts, und wenn kein Unglück kommt, so können wir in ein paar Jahren den Verlust ersetzt haben. Darum tröste Dich, mein guter Mann, und laß uns Gott danken, daß er nichts Schwereres über uns geschickt hat. Es hatte Dir oder unseren lieben Kinderchen ein Unglück zustoßen können.“

Die Frau sprach Alles mit einer außerordentlich weichen, innigen, so recht tief aus dem Herzen kommenden Stimme. Sie mußte ein braves Herz haben und mit diesem den Mann so recht innig lieben. Ich meinte, sie zu sehen, wie sie mit dem schönen, feinen, blassen Gesichte, das ich gestern Abend nur im Fluge hatte betrachten können, liebend und bittend vor ihm stand, ihn zu ermuthigen und aufzurichten. Den finsteren Mann, mit dem unheimlichen Kainszeichen im Gesichte! Er hatte aus ihren Worten eins aufgegriffen.

„Wenn kein Unglück kommt, sagst Du? Wenn es nun kommt? Gerade dazu lag das Geld da.“

„Laß uns nicht daran denken,“ unterbrach ihn rasch die Frau.

„Doch, doch. Müssen wir nicht daran denken? Was dann?“

„Gott wird für uns sorgen.“

„Gott? –“

Auf einmal hörte ich ein Wort, über das mir das Blut in den Adern erstarren wollte. Sie hatten bisher Beide deutsch gesprochen. Ich hatte nicht darauf geachtet, trotz dessen, was der alte Bauer mir über die fremde Sprache gesagt hatte, in der sie mit einander redeten, wenn sie sich ganz allein glaubten. Der Inhalt ihres Gesprächs hatte mich nicht daran denken lassen. Um so mehr überraschte, ergriff mich das fremde Wort, das ich jetzt auf einmal hörte. Es war nur ein einziges Wort und hatte so völlig gleichgültige Bedeutung.

„Klausik!“ flüsterte der Mann, sich selbst unterbrechend, plötzlich, rasch, hastig, wie in völliger Vergessenheit, der Frau zu. Gleichzeitig öffnete er die Thür, um zu sehen, ob Jemand in der Küche sei.

Klausik! Es war ein litthauisches Wort. Es heißt „Horch!“ Aus Litthauen waren sie? Litthauer? Eine Fluth von Gedanken überstürzte mich; eine Fluth von Erinnerungen und Combinationen. Ich war, wie ich bereits oben erzählte, mehrere Jahre in Litthauen Criminalrichter gewesen. Alle schweren Verbrechen, die dort verübt und deren Thäter unbekannt geblieben waren, alle schweren Verbrecher, von denen ich gehört, die ich aber nicht selbst kennen gelernt hatte, standen vor mir, und Alles vereinigte sich in dem Manne mit dem Kainszeichen, der in diesem verborgenen Erdwinkel sich zu verbergen gesucht hatte, den die allgemeine Volksstimme für einen Verbrecher erklärte, der noch so eben an Gottes Vorsehung und Barmherzigkeit gezweifelt hatte. Mein Kopf verwirrte sich. Ich hatte nur einen klaren Gedanken, daß ich dem Manne, der mich beobachtete, kein Zeichen einer Ueberraschung zeigen dürfe. Ich sammelte mich. Auch er hatte sich zusammen genommen und trat mit einem möglich gleichgültigen Gesichte zu mir in die Küche. Zugleich kam von einer anderen Seite, vom Hofe her, mein Kutscher herein. Er meldete mir, daß mein Wagen wieder in Ordnung, daß er angespannt und Alles zur Abreise bereit sei. Die Kosten der Reparatur des Wagens hatte er berichtigt. Ich dankte dem Hauswirth, gab seinen Leuten ein Trinkgeld und reiste dann ab.

Ich mußte jetzt meine Gedanken ordnen, klar machen und überlegen, was weiter zu thun sei. An eine Vergleichung meiner Abbildung der Fußspur mit dem Fuße des Bestohlenen hatte ich nicht mehr gedacht. Man ist zu Zeiten ein schlechter Criminalbeamter. Aber der Fuß lief mir ja, nicht davon, wenn der ganze Mann nicht weglief. Und dann, war jenes Gespräch zwischen Mann und Frau nicht auch der sicherste Beweis, daß der Diebstahl wirklich verübt und nicht ein vorgespiegelter war? Freilich, konnte es nicht auch darauf berechnet sein, daß ich es hören werde? Mein Kutscher hatte nun nicht genug die gute Aufnahme zu rühmen, die er gefunden hatte. – Ich konnte meine Gedanken ordnen; aber klarer sah ich darum nicht. Von allen Verbrechern und Verbrecherinnen jenes Landes, an die ich zurückdenken mußte, wollte Niemand zu dem Manne und zu der Frau passen, unter deren Dache ich Aufnahme gefunden hatte; das Alter war anders gewesen, die Person, der Grad von Bildung, Alles. Nur ein Bild wollte sich besonders hervordrängen; es war das eines Verbrecherpaares. Aber die Frau, oder vielmehr das Mädchen, lebte nicht mehr; sie hatte auf entsetzliche Weise, durch das eigene Verbrechen, in der Flammengluth ihre schwere Schuld büßen müssen.

Vor der Hand konnte ich nichts machen. Selbst von brieflichen Erkundigungen nach Litthauen hin war bei dem Wenigen, das ich als Anhalt angeben konnte, kein Resultat zu hoffen. Ich mußte jedenfalls warten, bis ich Gelegenheit haben werde, über die beiden Menschen Näheres zu erfahren. Diese Gelegenheit bot sich dar, wenn ich nach Ablauf jener acht Tage weitere Untersuchungen über den verübten Diebstahl einleiten durfte und mußte. Ich beschloß, so lange zu warten; ich sollte es jedoch nicht müssen. – Am dritten Tage nach jenem nächtlichen Abenteuer ließ sich eine Frau Heimann bei mir melden. Es mußte die Frau des verdächtigen Mannes sein, bei dem ich übernachtet hatte, dieselbe Frau, die ich damals nur flüchtig, mit halbem Blicke gesehen hatte. Was konnte sie von mir wollen? Sie wünsche mich eilig, dringend zu sprechen, sagte der Gerichtsbote, der sie anmeldete, Sie sei in großer Aufregung, sie könne ihre Thrönen nicht zurückhalten. Ich ließ die Frau sofort zu mir kommen. Ich erkannte sie wieder, wie flüchtig ich sie auch nur gesehen hatte, wie sehr das Gesicht von Schmerz und von heftigem Weinen entstellt war. Es war schön, dieses blasse, feine, regelmäßige Gesicht mit seinen großen, schwarzen, melancholischen Augen mit dem Ausdrucke eines Grames, eines Leidens, das von dem heutigen heftigen Schmerze nicht erst erzeugt sein konnte, der schon seit Jahren die feinen Züge durchzogen, aber auch veredelt haben mußte. Ihre ganze schlanke Gestalt war schön. Es lag etwas außerordentlich Anziehendes, beinahe Ergreifendes in ihrer Erscheinung. Sie trug auf ihrem Arme ein Kind von einem halben Jahre, einen Säugling, von dem die Mutter sich nicht hatte trennen können. Das Kind erhöhte das Interesse für sie.

„Retten Sie meinen Mann!“ rief sie hastig. „O Herr, lieber, lieber Herr, retten Sie ihn. Sie allein können ihn retten.“ Sie wollte, mit dem Kinde in dem Arme, vor mir niederfallen. Ich war furchtbar ergriffen. Nicht von der Angst der Frau, die allerdings einer Todesangst glich. Etwas Anderes war es: die Sprache, die Bewegungen der Frau. Das waren vollständig Aussprache, Betonung, Wendungen, mit denen die Litthauer, wenn sie des Deutschen mächtig sind, diese Sprache reden. Nur in Litthauen hatte ich es erlebt, daß die Frauen – der unteren Stände – wenn sie recht dringende Bitten hatten, in die Kniee sanken, die Stiefel,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eingegedrückte
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verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1859, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_410.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)