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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

J. C. Lobe in seiner Compositionslehre mit großer Klarheit dargestellt hat.

Jede Gefühlsbewegung im Menschen nimmt ihren Anfang und erreicht ihr Ende und durchläuft während ihrer Dauer einen Kreis von mehr oder minder mannichfaltigen Hebungen und Senkungen, Steigerungen und Ermattungen. Es treten Nebenstimmungen hinzu, welche Modificationen des Grundgefühls bewirken; das Gefühl schlägt plötzlich, auf seiner höchsten Höhe, in sein Widerspiel um und kehrt wieder zu seinem ursprünglichen Inhalte zurück oder wechselt diesen allmählich in kürzeren oder längeren Uebergängen.

Das ist seinem Wesen nach Niemanden unbekannt, wenn auch vielleicht nur dem kleineren Theile durch Beobachtungen an sich oder anderen Menschen zur deutlichen Vorstellung gelangt.

Jeder entwickelte Mensch kennt den Verlauf und die mannichfaltigen Schattirungen einer Freude, eines Schmerzes; jeder hat den plötzlichen Umschlag von der ersten zum zweiten und umgekehrt erfahren; jeder hat die aus zwei Gefühlsgegensätzen entstehenden gemischten Gefühle erlebt: Schwanken zwischen Freude und Schmerz, Furcht und Hoffnung, Liebe und Haß.

Ein jedes Gefühl trägt eine Bewegung, Gliederung und Begrenzung in sich, tritt also in einer Form auf.

Das Musikwerk soll nun einen ähnlichen Gefühlsproceß im Hörer hervorrufen, indem es die zu schildernden Gefühle durch die Ausdrucksmittel der Musik wiederzuspiegeln und zu versinnlichen sucht.

Jedes Gefühl für sich oder jeder Complex von Gefühlen erschien in einer bestimmten, in seinen einzelnen Erscheinungen und im Ganzen gegliederten und begrenzten Form – das den Gefühlsproceß versinnlichende Tonwerk wird nun ebenfalls einer solchen, durch den Inhalt auch äußerlich gegliedert erscheinenden Form bedürfen, um für uns verständlich zu werden.

Da sämmtliche Gefühle in ihrem Verlaufe viel Aehnliches mit einander haben, werden auch die allgemeinen Formen der sie versinnlichenden Tonwerke in ihren Umrissen viel Gemeinsames unter sich zeigen; eben so mannichfaltig aber wie dasselbe Grundgefühl durch die Veranlassung seiner Entstehung und durch hinzutretende Nebenumstände modificirt wird, eben so verschiedenartig wie dasselbe Grundgefühl in verschiedenen Menschen durch die Individualität in unerschöpflich reichen Nuancirungen erscheint, eben so unerschöpflich reich an Specialitäten werden auch die allgemeinen Umrisse der Kunstformen sich erweisen. Dieselbe Gefühlsregung wird in verschiedenen Menschen sich nach ihrer Individualität verschieden äußern, überdies werden auch andere Menschen dieselbe Sache anders empfinden – also bei allem Allgemeinen eine unendliche Mannichfaltigkeit; gerade so ist es auch in den Musikformen.

Um nur allein von dem Reichthume der Beethoven’schen Sonaten zu sprechen: sämmtliche bieten in ziemlich denselben Umrissen eine solche Mannichfaltigkeit des Inhaltes und demgemäß der Gliederung, Gruppirung und Theilung im Kleinen und Großen, daß keine der anderen, trotz der im wesentlichen gleichen Grundform, ähnlich erscheint.

Doch kann die Tonkunst nur das Gefühl selbst analogisiren; die Veranlassung seines Entstehens, die Gründe seiner Modificationen und Contraste höchstens nur unbestimmt ahnen lassen. Wir werden nur aus dem mehr oder minder bedeutenden Auftreten und größeren Aufschwünge zur Erhabenheit oder aus dem minder pathetischen Ergusse des Gefühles annähernd zu schließen vermögen, ob die Veranlassung desselben von Leben und Seele erschütternder oder minder ergreifender Bedeutung gewesen ist. Bei der allgemein genannten C moll-Symphonie von Beethoven wird fast Jeder ahnen, daß die Veranlassung der großen Gemüthsbewegungen eine gewaltsam hereinbrechende und erschütternde gewesen ist. Ob diese Veranlassung aber z. B. der Tod einer geliebten Person oder irgend ein anderer heftiger Schicksalsschlag war, können wir nicht aus der Musik erfahren wollen; die Veranlassungen der Gemüthsbewegungen können wir nur selbst in das Werk hineindichten.

Das Individuelle des Gefühls, wodurch es allerdings gerade den Stempel des Interessanten erhält, darf jedoch nicht die allgemeine Faßlichkeit desselben überwuchern, indem sonst auch das Tonwerk, sowie das Gefühl selbst, unverstanden bleiben muß. Durchaus capriciöse Subjectivität, welche von der Natur aus individueller Laune sich entfernt und darauf fußt, alle Dinge anders ansehen und fühlen zu wollen, wie andere gesunde Menschen, wird naturgemäß auch nur von gleichen Geistern, oder besser, gar nicht begriffen werden. Die Empfindungen in einem Tonwerk sollen nicht bunt durcheinander auf uns einstürmen, uns bald da, bald dorthin reißen, von einem Gefühl zum andern ohne denkbare Ursache überspringen; wie wir einem Menschen, den wir in einem Augenblicke weinen, lachen, lieben und hassen, rasen und sich mild anstellen sehen, wenig Vernunft und Charakter zutrauen, ebenso werden wir auch naturgemäß an einem Musikstück, in dem nur charakterlose Laune waltet und die Gedankeneinheit fehlt, kein Wohlgefallen finden. Das Tonstück, welches schnell vorüberziehend ein freies Spiel der Phantasie zu sein scheint, soll also nicht aus momentaner Willkür einer mehr oder minder phantastisch erregten Subjectivität hervorgegangen sein, sondern, wie schon gesagt, auf allgemeiner Faßlichkeit und natürlicher Entwickelung seiner Gedanken beruhen.

Neben diesen, einen bestimmten Gefühlsinhalt in sich tragenden Musikwerken sprachen wir auch von solchen, die nur reine Musik sind, reine Composition in Tönen ohne einen auch nur zu ahnenden Gefühlsinhalt. In der That würde es bei vielen Werken, besonders der Haydn-Mozart’schen Periode, sehr schwer werden, einen solchen idealen Inhalt herauszufinden. Man könnte geradezu sagen, daß ein solcher ihnen gänzlich fehlt oder dem Künstler wenigstens nicht zum klaren Bewußtsein gelangt und zur Absicht geworden ist. In diesem Falle ist das Werk ein reines Tonspiel; und doch können wir solchen Werken, in denen nur eine rein musikalische Wirkung zu walten scheint, oft unser größtes Wohlgefallen nicht versagen. Von solchen Werken, deren ganze Bedeutung in ihrem rein musikalischen Inhalte ruht, die eine Parallelisirung desselben mit einem bestimmten Gefühlsinhalte gar nicht zu fordern oder zuzulassen scheinen, hat man wohl gesagt, daß gerade sie die Tonkunst am reinsten erfüllten.

Das kann hier nicht weiter erörtert werden; gewiß ist aber, daß besonders durch Beethoven die reine Instrumentalmusik als dichterische Tonkunst zur höchsten Entfaltung gelangt ist, indem sie bei ebenso vollendeter rein musikalischer Schönheit noch eine tiefere allgemeine Idee in sich tragen soll. In der Vocalmusik ist dieses höhere Ideal der Musik schon durch Bach und Händel erreicht. Die Schritte, welche einzelne Künstler nach Beethoven über ihn hinaus gethan zu haben beanspruchen, gehen meist nach der Seite des Aeußerlichen und Materiellen hin. – Wir sprachen schon vorhin davon, daß die musikalischen Formen eben so mannichfaltig seien, wie der Gefühlsinhalt, der in ihnen zur Entscheidung kommen soll, verschieden ist. Aber die Umrisse sind sich ähnlich, sowie bei der menschlichen Gestalt das individuell Verschiedene doch an denselben allgemeinen äußeren Formen haftet; die sonst gleiche äußere Körperbildung zweier Menschen erscheint in ihrem geistigen Ausdrucke durch das innere Leben des Individuums modificirt.

Diese allgemeinen Kunstformen zerfallen in der Musik in zwei, ihrem idealen Inhalte nach ziemlich deutlich zu scheidende Hauptabtheilungen, in die des strengen oder kirchlichen und in die des freien oder weltlichen Styles. Die Kirchenmusik, welche ebenfalls die menschlichen Empfindungen, aber in ihrer directen Beziehung zum göttlichen Wesen zum Inhalte hat, bedient sich meist der auf den polyphonen contrapunktischen Satz begründeten Formen. Der Chorgesang ohne Begleitung (a capella) und in Verbindung mit dem Orchester hat in der kirchlichen Kunst seine höchste Entwickelung erlangt; die reine Instrumentalmusik dagegen tritt hier in den Hintergrund zurück. Dafür hat sie in der weltlichen Musik, besonders in der Symphonie ihre großartigste und freieste Entfaltung gewonnen.

Die Formen der weltlichen Musik haben sich besonders in der neueren Zeit am höchsten entwickelt (durch Haydn, Mozart und Beethoven) und schärfer von den kirchlichen gesondert; die letzteren haben schon in Bach und Händel ihre höchste Erfüllung erreicht, über die die neuere Zeit keinen Schritt hinausgelangt ist – wahrscheinlich, weil es ihr auch an bestimmten religiösen Ideen gebricht.

Nun wollen wir aber in unserer Besprechung wieder umkehren und, ehe wir die einzelnen Formen in’s Auge fassen, betrachten, wie der Ton, welchen die Kunst, von der Natur empfangen und nach bestimmten aufgefundenen Gesetzen der Höhe und Tiefe, des Zusammenklanges und des Wechsels in der Zeit geordnet hat, Darstellungsmittel der Gefühle und Leidenschaften durch drei Factoren wird. Diese drei Factoren sind: die Melodie, die Tonfolge in Betreff der Höhe und Tiefe; die Harmonie, der Zusammenklang der Töne, und der Rhythmus, die Bewegung in der Zeit.

Darüber wohl ein anderes Mal etwas Näheres.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 408. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_408.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2023)