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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

„In zehn Minuten, Herr. Es geht langsam.“

„Liegt es an der Straße?“

„Ungefähr fünf Minuten von der Seite. Wir biegen bald von diesem Wege ab.“

„Wem gehört es?“

„Mir.“

Mich durchzuckte es bei dem Worte.

In das Haus des finsteren unheimlichen Menschen sollten wir, des Menschen, den die ganze Gegend für den gefährlichsten Dieb hielt! In die Räuberhöhle sollte ich, in stockfinsterer Nacht, in wildfremder Gegend, ich mit meinem lahmen Arme, der Kutscher mit seinem lahmen Beine, Beide ohne Waffen, unfähig zu jedem Widerstande! Und kein Mensch in der Welt wußte etwas davon, daß wir in diese Höhle hineingingen. Waren wir später verschwunden, so waren wir spurlos verschwunden. Sollten wir uns ihm wirklich überliefern? Gutwillig, freiwillig überliefern? Aber konnten wir anders? Entweder war er der gefürchtete Dieb, und wir waren in Gefahr, oder er war es nicht, und wir konnten ihm ruhig in sein Haus folgen. War er der Dieb, so waren wir unter allen Umständen in seiner Gewalt, mochten wir weiter mit ihm gehen oder nicht. War er es nicht, so mußte jedes Mißtrauen namentlich mich lächerlich machen.

„Werden Sie unseren Wagen wieder herstellen können?“ fragte ich ihn.

„Ich hoffe es.“

„Wohnen Sie in einem Dorfe?“ fragte ich noch.

„Nein. Es ist überhaupt kein anderes Haus in der Nähe.“

Er setzte die Worte wie absichtlich hinzu, und ich hatte doch meine Frage in dem gleichgültigsten Tone von der Welt vorgebracht. Er sollte an meinen vollkommenen Gleichmuth glauben.

„Ich habe zwar Eile,“ fuhr ich daher fort, „ich müßte morgen früh wieder zu Hause sein. Aber könnte ich, wenn es nicht anders ginge, bei Ihnen Nachtquartier finden?“

„Wenn Sie vorlieb nehmen wollten, ja.“

Er hatte immer nicht unhöflich gesprochen, aber kurz, und sein finsteres, unheimliches Gesicht glaubte ich bei jedem Worte zu sehen. –

Er bog von der Straße ab, in einen Seitenweg. Wir fuhren einer dunkel vor uns liegenden Holzung zu; der Weg führte mitten in sie hinein. Diese Holzung war dicht, finster und etwa fünf Minuten lang. Dann kamen wir in offenes Feld, an dessen Rande sich vor uns dunkle Gegenstände erhoben. Der Fremde führte uns auf diese zu. Ich erkannte ein paar Gebäude, zwischen denen und um die herum mehrere Bäume standen. Es war das Gehöfte des Fremden.

War es die Höhle des Räubers?

Wir kamen näher. Ich erkannte deutlicher die Umrisse eines größeren Bauernhauses mit den dazu gehörigen kleineren Nebengebäuden. In Westphalen findet man meist solche einzeln liegende, abgeschlossene Bauerhöfe. In jener Gegend kamen sie hin und wieder vor.

„Das ist Ihr Gehöfte?“ fragte ich unseren Führer.

„Ja, Herr.“

„Ihr Name?“

Der kleine, alte Bauer hatte mir seinen Namen, Heimann, genannt; aber er durfte nicht wissen, daß ich ihn kannte.

„Heimann,“ antwortete er.

Wir fuhren auf den Hof und langten an dem Hause an. Auf dem Hofe war es dunkel; auch in dem Hause sah man kein Licht. Trotz der Dunkelheit konnte ich indeß wahrnehmen, daß überall Ordnung herrschte; die Gebäude schienen in gutem Zustande zu sein. Nach einer Räuberhöhle sah das nicht aus.

Der Hausherr, auf dessen Grund und Boden wir uns jetzt befanden, klatschte mit der Peitsche, um unsere Ankunft anzukündigen.

„Es ist schon spät,“ sagte er zu mir, „meine Leute werden meist schlafen; denn morgen früh müssen sie schon um drei Uhr wieder an der Arbeit sein.“

Ich hatte kurz vorher auf meine Uhr gesehen; sie zeigte auf neun Uhr. Wir waren im August.

Die Thür des Hauses öffnete sich. Ein Knecht trat mit einer Laterne heraus. Der Mensch sah ordentlich aus, nur etwas schläfrig. Einen Räuber sah man dem nicht an.

„Ist meine Frau schon zu Bett?“ fragte ihn sein Herr.

„Sie hat noch auf Sie gewartet.“

„Halte die Pferde.“

Der Knecht stellte sich zu den Pferden, und der Herr wandte sich an mich.

„Vor der Hand, Herr, werden Sie wohl in mein Haus eintreten müssen. Ich werde unterdeß suchen, ob sich auf dem Hofe ein Rad findet, das zu Ihrem Wagen paßt.“

„Und wenn sich keins findet?“

„Mit den drei Rädern können Sie nicht weiter. Dann würden Sie schon die Nacht ganz hier bleiben müssen. Morgen früh, gleich um drei, würde ich zum Stellmacher schicken, der eine Viertelstunde von hier wohnt.“

„Könnte ich nicht sofort mit dem Wagen zu dem Stellmacher fahren?“

„Wie Sie wollen, Herr. Aber in der Nacht wird Ihnen der Mann kein Rad machen. Auch er ist heute schon um drei Uhr auf gewesen und hat den ganzen Tag gearbeitet; da wollen die Leute des Nachts ihre Ruhe haben. Aber – wie Sie wollen.“

Er sprach so unbefangen, so treuherzig. Sein Gesicht, das ich in dem Scheine der Laterne voll sehen konnte, kam mir nicht mehr so finster und unheimlich vor. Es sah rings umher so ordentlich, so unverdächtig aus. Es war möglich, daß sich gleich ein passendes Rad fand und ich in der nächsten Viertelstunde meine Reise fortsetzen konnte. Ich hätte eine lächerliche Furcht verrathen, wenn ich ohne weiteren Grund darauf bestanden hätte, zu dem Stellmacher zu fahren. Mein armer Kutscher ächzte zudem im Wagen; sein verstauchtes Bein schmerzte ihn sehr. Ich entschied mich, zu bleiben.

„Gut,“ sagte er, „so werde ich die Pferde in den Stall und den Wagen in den Schuppen bringen lassen.“

An den Wagen war er schon herangetreten, um dem lahmen Kutscher herauszuhelfen; er hob ihn leicht heraus.

„Wenn Sie,“ sagte er zu ihm, „den Fuß tüchtig mit Branntwein einreiben, so wird er morgen wieder besser sein, besonders wenn er die Nachtruhe haben könnte. – Wollen Sie nicht Ihre Sachen aus dem Wagen nehmen?“ wandte er sich dann an mich.

Er sprach und that Alles mit einer so klaren, so völlig unbefangenen und unverdächtigen Ruhe. Ich mußte das Mißtrauen, das noch in mir aufsteigen wollte, fast mit Spott zurückkämpfen.

Volkesstimme ist doch nicht immer Gottesstimme!

Ich hatte nur meine Acten im Wagen. Ich nahm sie heraus. Der Hausherr führte uns in das Haus. Wir traten, ähnlich wie in den westphälischen Bauerhäusern, in eine große, geräumige Küche. Sie schien auch, wie gleichfalls in Westphalen, zum gewöhnlichen häuslichen Aufenthalte zu dienen; es standen wenigstens Tische und Stühle darin.

„Lassen Sie sich einstweilen hier nieder,“ sagte der Hausherr. „Unsere Wohnstube ist zugleich unsere Schlafstube. Meine Frau ist mit den Kindern darin. Auf dem Lande ist das so.“

Er ging in eine Stube nebenan, und ich hörte ihn dort bald sprechen. Eine Frauenstimme antwortete ihm. Was sie sprachen, konnte ich nicht verstehen. Ich glaubte nur, daß sie deutsch redeten.

Nach einer Weile kam er zurück, und brachte dem Kutscher ein Glas mit Branntwein. Zugleich mußte der Kutscher den Fuß zeigen. Es war nur eine leichte, obwohl schmerzvolle Verstauchung, die nur für heute bis morgen am Gehen hinderte. Während wir mit der Besichtigung beschäftigt waren, hatte sich die Thür derselben Stube geöffnet, aus welcher der Hausherr zurückgekehrt war.

Als ich aufblickte, sah ich, daß eine Frau herausgetreten war. Sie hatte uns aber schon den Rücken zugewandt, ihr Gesicht sah ich nicht mehr. Ihre Figur war groß, schlank. Sie verließ durch eine Seitenthür die Küche. Gleich darauf verließ uns auch der Hausherr.

„Ich werde jetzt nach Ihrem Wagen sehen.“ Er ging auf den Hof.

„Der ist doch kein Heidegespenst!“ sagte der Kutscher hinter ihm her. Er fühlte sich behaglich, zumal da er sich überzeugt hatte, daß für seinen Fuß keine Gefahr sei. Von meiner Unterredung mit dem kleinen, alten Bauer hatte er nichts gehört.

Nach ungefähr zehn Minuten kam der Hausherr zurück. „Es wird sich machen mit Ihrem Wagen. Wir haben ein Rad gefunden, das paßt. Es muß nur noch fester zusammengeschlagen werden. Der Knecht ist damit beschäftigt.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 394. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_394.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)