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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

No. 27. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Volkesstimme.
Criminalgeschichte von J. D. H. Temme.

Im Zwielichte des Abends mitten in einer Heide, in wildfremder Gegend sich verirren, nicht wissen, ob man, um wieder auf den rechten Weg, um wieder zu Menschen zu kommen, rechts oder links, vorwärts oder rückwärts gehen muß, Niemanden sehen, der Einem das sagen kann – es ist für einen Reisenden eben keine angenehme Lage.

Ich war in der Lage. Schon seit einer halben Stunde war ich in der Heide gefahren, und noch war das Ende der kahlen Fläche nicht zu sehen, auf der nur Heidekraut und nur hin und wieder eine kleine verkrüppelte Fichte stand. Desto mehr Wege waren zu sehen; aber eine befahrene Landstraße war nicht darunter. Es gab freilich überhaupt in der Gegend keine Landstraße, in der ich hätte weiter fahren können oder müssen. Nur Wege, die kreuz und quer durch die Heide liefen, auf denen die an diese grenzenden Bauern des Jahres ein paar Mal Torf oder Plaggen oder Holz von drüben holten, lagen vor, neben und hinter mir.

„Hole der Teufel eine solche Heide, Herr!“ fluchte mein Kutscher unwillig.

„Kommen wir damit weiter, Kutscher?“

„Und heute Morgen sind wir gar nicht hierher gekommen.“

Ich hatte eine amtliche Geschäftsreise gemacht und war auf dem Rückwege nach Hause. Der Rückweg sollte derselbe Weg sein, den wir am Morgen gekommen waren. Wir waren auch diesen Morgen durch die Heide gefahren, aber in dieser hatten wir uns jetzt verirrt.

„Nein, Kutscher; heute Morgen fuhren wir einen ganz anderen Weg.“

„Und keine einzige verd– Christenseele ist in der Nähe, die uns wieder auf den rechten Weg zeigen könnte.“

„Nicht einmal ein unschuldiger Gnom, Kutscher.“

„Gnom, Herr? Hier in der Gegend wohnen nur Bauern.“

„Oder Erdmännchen denn; in Litthauen nennt man sie Barstucken.“ Ich hatte früher mehrere Jahre in Litthauen als Beamter gestanden; daher die Erinnerung.

Bei dem Worte Erdmännchen hatte der Kutscher aufgehorcht. Bei dem fremden Worte Barstucken mochte es ihn gar etwas durchschauern. Es fing an zu dunkeln, und wir waren mitten in der unabsehbaren Heide. Er sah sich scheu um, in dem Heidekraute, das in dem Abendwinde raschelte, nach einer Reihe jener kleinen, verkrüppelten, grauen Fichten, die nicht weit von uns standen und durch die man einzelne Windstöße schwirren hörte.

„Herr, sprechen Sie hier nicht von Gespenstern.“

„Wißt Ihr gewiß, Kutscher, daß die Erdmännchen Gespenster sind?“

„Alle Welt weiß es.“

„So wollen wir lieber von dem langen Heidemanne sprechen, der Siebenmeilenstiefeln trägt –“

„Herr, Herr – ich bitte Sie –“

„Und der also in diesem Augenblicke noch volle sieben Meilen von uns ist und im nächsten Momente, ehe man sich nur umsehen kann –“

„Herr, um Gotteswillen –“

„Einem schon den rechten Weg zeigen kann.“

„Ah, Herr, wie Sie Einen in Angst jagen können!“

„Er kann Einem aber auch eben so geschwind den Hals umdrehen.“

„Großer Gott, Herr –“ Er schrie auf, aber mit gedämpfter Stimme.

„Was gibt’s? Ist er schon da?“

„Dort, dort!“

Er zeigte nach der Fichtenreihe, die nicht weit von uns stand, und war leichenblaß geworden. Ich sah hin nach der Richtung, wohin er zeigte; aber mir ging das Herz vor Freude auf.

„Vortrefflich! Da sind wir auf einmal aus aller Noth; der kann uns den rechten Weg zeigen.“

„Sie wollen doch nicht hin, Herr?“

„Warum nicht?“

„Der Mensch war so auf einmal da, hier mitten in der Heide; wir hatten vorher nichts von ihm gesehen. Und wie sieht dieser Mensch aus!“

„Er sieht aus, wie andere ehrliche Menschen. Und daß er ein ganz ehrlicher Mensch ist, habe ich heute erfahren.“

„Sie kennen ihn?“

„Ich habe heute Amtsgeschäfte mit ihm gehabt.“

Der Kutscher athmete wieder auf. Ich wollte zu dem Manne gehen, den ich zwischen den Fichten gesehen hatte; aber auf einmal stutzte ich.

„Was Teufel ist denn das?“

Der Kutscher war wieder blaß geworden. „Es war doch ein Geist, Herr.“

„Aber ich hatte den Menschen erkannt.“

„Die bösen Geister können alle Gestalten annehmen.“

Ich hatte ganz deutlich einen Menschen gesehen, einen kleinen, alten Mann in grauem Rock und grauer Pelzmütze, und in ihm

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 377. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_377.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)