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verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

wenigen Tage, die ich in meiner Vaterstadt noch verbrachte, wurden mir eine wahre Hölle. Alle meine Altersgenossen waren verschwunden; wenn man mich so allein durch die Gassen schlendern sah, zuckte man die Achseln. So oft ich ausging, um bei einem alten Soldaten einige geheime Exercirstunden zu nehmen, setzte Margareth voraus, daß ich endlich abreise und daß ich nur der vielen französischen Soldaten wegen, die sich in unserem Hause herumtrieben, nicht offen Abschied nehme, und sie lächelte mir einen liebevollen Gruß zu. Kam ich aber des Abends wieder zurück, so rief sie ganz laut: „Noch nicht fort?“ und schüttelte den Kopf über mich, wie über einen verlorenen Menschen.

Endlich, endlich kam der Tag, da ich, nach kurzem Abschied, auf preußischen Boden entweichen durfte.

Na, ich will unsern Feldzug nicht erzählen; den kennt ja Jeder, oder es sollte ihn wenigstens Jeder kennen, um was daraus zu lernen für künftige Zeiten, die vielleicht nicht zu fern sind. Auch meine Heldenthaten und Schlachten will ich nicht erwähnen, und wie ich überall mit heiler Haut davon kam. Nur ein eigenthümliches, rührendes Vorkommniß will ich erzählen.

Wir waren schon am Rhein, als meine Schwadron den Befehl bekam, schnurstracks zurückzureiten und in einer gewissen Gegend Westphalens Posto zu fassen. Ich glaube, wir sollten dort eine Kriegscasse erwarten, um sie dann weiter an die französische Grenze zu begleiten. Das verdroß uns ein wenig, weil wir uns auf Paris gefreut hatten – aber die Alliirten zogen ja in Frankreich ein, und das war die Hauptsache, und wir waren im Ganzen lustig und guter Dinge. In Westphalen, mitten in einer großen Ebene, welche die Heerstraße in gerader Linie durchschnitt, wurden wir in einzelne Höfe, die über das Land zerstreut sind, einquartirt. Mir und noch fünf meiner Cameraden wurde ein kleiner Hof angewiesen, der unmittelbar an der Landstraße lag. Als wir daselbst mit unsern Zetteln in der Hand vorritten, kam uns ein altes Mütterchen entgegen, das uns überaus freundlich anlächelte und mit Kopfnicken, ohne eigentlich ein Wort zu sprechen, willkommen hieß. Sie wollte uns jeden Einzelnen aus dem Sattel heben und hätte es gewiß gethan, wenn wir nicht rasch abgesessen wären.

„Mutter Schleinitz,“ sagte ich, „da ist unser Quartierzettel.“

„Das bin ich nicht; die Mutter Schleinitz wohnt im oberen Hofe, dort oben; ich bin die Mutter Lene,“ sagte die Alte, immer lächelnd.

Wir sahen, daß wir uns geirrt hatten, und wollten wieder aufsitzen, um weiter zu reiten. Aber Mutter Lene flehte: „Das thut ja nichts; bleibt, Kinder, bleibt hier; Ihr sollt’s gut haben, wahrlich sehr gut! Caspar,“ rief sie, und ein Knecht kam aus dem Hofe – „Caspar, führ’ die Pferde in den Stall. – Kommt, Kinder, bleibt hier!“ bat die Alte wieder, nahm Zwei von uns am Arm, und zog sie in die Stube; die Andern folgten unwillkürlich. Wir wußten gar nicht, wie uns geschehen war; die Alte bat so innig, daß wir nicht widerstehen konnten. In der Stube öffnete sie eine Kammerthür, und wir sahen Würste, Schinken, Eierkörbe und allerlei andern Mundvorrath schön geordnet aufgehängt und aufgestellt. „Mein Keller,“ jagte sie, „ist auch gut bestellt – Ihr sollt es gut bei mir haben, Kinder – Ihr müßt nicht sparen und leben, so gut Ihr wollt.“

Grass aus Hamburg machte hinter dem Rücken der Alten mit der Hand eine Bewegung vor der Stirne, als wollte er andeuten, laß es bei ihr nicht richtig sein müsse. Indessen ließen wir uns die gastliche Aufnahme gern gefallen und blieben bei der Mutter Lene. Caspar brachte unsere Pferde unter, und die Magd deckte den Tisch mit reinlichem Linnen, während die Alte sehr emsig am Heerde beschäftigt war, uns eine Mahlzeit zu bereiten. Aber diese Beschäftigung hielt sie nicht ab, uns, als wir uns an das Putzen unserer Umformen und Waffen machten, hie und da hülfreiche Hand zu leihen und Manches herbeizubringen, was unsere Arbeit erleichtern konnte. Wir waren erstaunt. Bei manchem Patrioten waren wir gastlich aufgenommen worden, aber solche Güte und Gastlichkeit, wie bei der allen Bäuerin, hatten wir noch nicht erfahren.

„Ja, das Volk, das Volk!“ rief der Eine, „ich sage es ja immer, das Volk, nur das Volk!“

Und der Andere: „Wie müssen die Unterdrücker und der Herr Hieronymus hier gehaust haben, wenn die Befreier so geliebt werden!“

Bei Tische trug sie selber auf und bediente uns wie eine Magd; dann setzte sie sich zu uns und sah lächelnd zu, wie wir mit jugendlichem Appetit, in ihre Speisen einhieben, und munterte uns auf, fortzufahren. Sie saß mir gerade gegenüber, und da bemerkte ich erst, daß ich kein gewöhnliches Gesicht vor mir hatte. Es lag etwas wie ein Schleier darüber, wie ein Schleier, der ein Geheimniß verdeckt.

Wie braun und gehärtet auch die bäuerlichen Züge erschienen, hatte doch das ganze Gesicht etwas unsäglich Mildes; nur zwei kummervolle Falten, die die Stirn von oben nach unten durchschnitten, machten den Eindruck, als wären sie nie glättbar und doch wieder, als warteten sie fortwährend einer Freude, die mit weicher Hand darüber fahre und sie verwische. Eigenthümlich war es, in wie geringer Verbindung Mund und Augen standen; denn während jener immer lächelte, blickten diese eben so unausgesetzt mit einem unsagbar sehnsüchtigen Ausdrucke und immer, als blickten sie in weite, verschwommene Ferne. Die Gestalt der alten Mutter Lene war kräftig, aber von der Last der Jahre und, wie man sich sagen mußte, von einer andern unsichtbaren Last etwas zusammengekrümmt. Je länger ich sie ansah, desto freundlicher, fast möchte ich sagen, desto zärtlicher wurde meine Stimme, wenn ich mit ihr sprach, und desto trauriger wurde ich im Innern meines Herzens, und ich konnte bemerken, daß es meinen Cameraden eben so erging. Es war unsern heitern und jugendlichen Gemüthern förmlich eine Last vom Herzen genommen, als sie, da die Schwarzwälder Uhr drei schlug, plötzlich aufstand und rasch zur Thüre hinaus schritt, um nicht wieder zurück zu kommen.

Nach Tische sahen wir nach unsern Pferden, die wir gut versorgt fanden, und gingen dann, uns im Hause einzurichten. Obwohl uns Mutter Lene die Stube ganz überlassen, wollten wir die gute Gastfreundin doch nicht aller Bequemlichkeit berauben und sahen uns im Hause um, wo wir unser Nachtlager aufschlagen könnten, ohne ihr beschwerlich zu fallen. Ich stieg zu diesem Zwecke die schmale Treppe hinauf, die vom Vorhause auf den Boden führte. Oben angekommen, hatte ich einen sonderbaren Anblicke. Vor einer Dachluke auf einem Strohsessel saß Mutter Lene, die seit mehr als einer Stunde verschwunden war, und sah unbeweglich vor sich hin. Ich hielt sie für schlafend, da ich mich aber näherte, sah ich ihre Augen weit geöffnet. Sie starrte unabwendbar der Landstraße entgegen, die wie ein gerader weißer Strich die Ebene durchschnitt und sich in weiter Ferne am östlichen Horizonte verlor. Ich stand neben ihr, ich sah in ihre weit offenen Augen, aber sie bemerkte mich nicht, obwohl ihr ganzes Leben in diesen Augen concentrirt schien. Ich hätte sie, ohne den ungewöhnlichen Glanz der Augen, für todt gehalten, so aber glaubte ich, sie befinde sich in irgend einem krankhaften Zustande, und fragte sie mit lauter Stimme: „Mutter Lene, fehlt Ihr was? Was macht Sie hier?“

Ein abwehrendes „Sch“ war die einzige Antwort; ihre Augen wandten sich dabei von der Straße nicht ab.

Ich legte meine Hand auf ihre Schulter und schüttelte sie leise. Eine ungeduldige Bewegung sagte mir, daß ich ein unberufener Störer war, brachte aber ihren Blick nicht eine halbe Secunde lang aus seiner Richtung.

Ich wußte nicht, was aus all dem zu machen, und rief die Cameraden, die auf ein gegebenes Zeichen auf den Fußspitzen herankamen. Da standen wir nun im Halbkreise um die Alte herum, sahen sie an, zuckten die Achsel, schüttelten die Köpfe und schlichen endlich fort, ohne auch nur von ihr bemerkt zu werden.

Im Hofe trafen wir Caspar, den Knecht, und fragten ihn, was das zu bedeuten habe.

„Bah,“ sagte Caspar, „so sitzt sie jeden Tag; sie erwartet ihren Sohn, ihren Wilhelm.“

„Sie hat einen Sohn?“ fragten wir.

„Ja, sie hatte einen Sohn. Die Franzosen haben ihr ihn vor drei Jahren fortgenommen, da er noch nicht siebzehn Jahre alt war, und haben ihn nach Rußland geführt. Na, man weiß, was aus den Franzosen und aus den Deutschen in Rußland geworden ist, aber die Alte läßt sich’s nicht ausreden, daß ihr Wilhelm noch einmal heim kommt. Sie erwartet ihn jeden Tag und sitzt da oben an der Dachluke, wo sie die Landstraße übersehen kann; denn von da, bildet sie sich ein, müsse er herkommen, weil er auf dem Wege fortgegangen ist. Sie besorgt ihr Hauswesen, arbeitet den ganzen übrigen Tag, damit ihr Wilhelm, wenn er heimkommt, sein väterliches Erbe in guter Ordnung finde, aber wie’s drei schlägt, läßt sie Alles stehen und liegen und steigt da hinauf und wartet.“

„Also darum liebt sie die Soldaten, weil sie selbst einen Sohn unter den Soldaten hat?“

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