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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

dringt und dafür sorgt, daß die gesammte Jugend, also namentlich auch die Jugend dieser Dissidenten-Gemeinden, Lesen, Schreiben und Rechnen und was noch sonst zum Elementar-Unterrichte gehört, aus das Sorgfältigste und Beste erlernt, er den Religionsunterricht und die damit so nahe verknüpfte Sittenlehre ganz ignorirt. Welchen Unterricht die Kinder darin erhalten, darum bekümmert er sich gar nicht, so daß also der Fall eintreten kann, daß die zehn Gebote, diese Fundamentalsätze jeder sittlich-bürgerlichen Gemeinschaft: Du sollst nicht stehlen; du sollst nicht tödten; du sollst den Namen deines Gottes nicht mißbrauchen etc. – bei vielen dieser Dissidenten-Gemeinden ist selbst das Bekenntniß des lebendigen persönlichen Gottes sehr in Zweifel gestellt – den Kindern vielleicht niemals vorgehalten werden. Indessen das fällt nicht auf unseren Kopf, sondern auf den Kopf derer, die von Gottes und Rechts wegen die Erziehung dieser Kinder zu leiten haben (lebhaftes Bravo) und die selbst gewissenhaft urtheilen mögen, ob sie den jedenfalls auf mehr als tausendjährigen Grundlagen beruhenden Religionsunterricht der öffentlichen Schule oder den wahrscheinlich nur sehr dürftigen ihrer Religionslehrer ihren Kindern ertheilen lassen wollen. In der That empfiehlt sich aber dieses Resultat nicht blos durch seine Gesetzlichkeit, sondern auch durch seine Zweckmäßigkeit. Ein anderes Verfahren enthält einen inneren Widerspruch. Was kann die Schule ausrichten, wenn sie sich im Kampfe mit der Familie befindet, wenn den Kindern das, was sie in der Schule hören, im Hause als unwahr, als thörichter Aberglaube etc. dargestellt wird? (Sehr wahr!)

„Es ist die große Aufgabe der beiden christlichen Kirchen, wie es ja ihr Bekenntniß sagt, das Verirrte zu suchen, nicht durch Zwangsmaßregeln, sondern auf dem Wege der suchenden Liebe, auf dem Wege der Ueberzeugung, durch Lehre und Beispiel das wieder zu gewinnen, was ihnen verloren war. (Lebhaftes Bravo rechts.)“

Dies ist die That, die wir gerühmt, die seinen Namen verewigen wird! Achtung vor der Verfassung, Gesetzmäßigkeit und wahrhaft christliche Gesinnung sind die charakteristischen Merkmale dieser denkwürdigen Rede, die als ministerielle in Deutschland einzig dasteht.

Wem es endlich beschieden gewesen, in engeren Verkehr mit Herrn von Bethmann-Hollweg zu treten, rühmt von ihm ein humanes, liebreiches Wesen. Er war allezeit bereit, das Verdienst zu ehren, das Gute anzuerkennen und aufzunehmen, von welcher Seite es sich immer darbot, ob er dabei auch auf die größte Principverschiedenheit in den wichtigsten Lebensfragen stieß, und besitzt Geist und Bildung genug, Verdienst und Gutes unter allen Formen und Verhältnissen herauszufinden. Mit vielen seiner Ansichten über Religion und Kirche sind wir nicht einer Ansicht, aber selbst seine Gegner auf diesem Gebiete achten in ihm den Ehrenmann, den Mann des Gesetzes, dessen durch und durch noble Gesinnung ihn stets auf dem geraden, offenen Wege halten wird. Nichts hat ihn im Leben so angewidert, als Doppelzüngigkeit und die Unsittlichkeit der Disharmonie zwischen Thun und Reden. Von seinem enormen Reichthum hat er, so weit es in die Oeffentlichkeit gedrungen, lobenswerthen Gebrauch gemacht. Er hat Kunst und Wissenschaft unterstützt, der Armuth nie seine Hand verschlossen, ja es könnten, wenn es nicht gerade bekannte lebende Personen beträfe, wenn es keine Verletzung des Edelmuths wäre, Beispiele angeführt werden, mit welcher hochherzigen, rührenden Zartheit namhafte Subventionen von ihm ertheilt worden sind.

Freuen wir uns denn, zumal im Rückblick auf die Vergangenheit, dieses Mannes!




Ludwig Napoleon als „Befreier“ Italiens
und die Briefe Orsini’s und Mazzini’s.

Der Napoleonide, unter dessen unumschränkte Gewalt seit nun acht Jahren die Franzosen gebeugt sind, hat einen europäischen Krieg begonnen; er, der für seinen Willen keine Schranken anerkannte und einen vollendeten Despotismus eingeführt hat, gibt sich für einen „Befreier“ der Völker und für einen Beförderer der „Civilisation“ aus. Eine dreistere Behauptung hat die Weltgeschichte nicht aufzuweisen.

Jeder Mensch, der auch nur noch einen Schatten seiner fünf Sinne besitzt, wußte und konnte von Anfang an wissen, daß das Treiben der Abenteurer in Frankreich über kurz oder lang einen europäischen Krieg hervorrufen werde. Dieser Napoleonide mußte den Krieg haben, wenn er seine Herrschaft über die Franzosen befestigen wollte. Der Kundige weiß aus der Geschichte, daß Männer der Staatsstreiche, Usurpatoren, die eine neue Dynastie bilden wollen, ohne Krieg niemals diesen Zweck erreichen können, und zu Gunsten dieses Ludwig Napoleon sollte doch die Geschichte nicht etwa eine Ausnahme machen? Auch hat er ja von langer Hand auf den Krieg hingearbeitet, und sein ehemaliger Genosse bei den Attentaten gegen König Ludwig Philipp, Monsieur, jetzt Graf von Napoleons Gnaden, Fialin Persigny, hat ja offen gesagt: „Wir werden nur in einem Feuerwerk abziehen.“ (Nous ne partirons que dans un feu d’artifice.) Wie echte Seiltänzer!

Das Feuerwerk ist nun da, und vorerst hat dieser Napoleon Italien in Brand und Flammen gesteckt. Damit möchte er mancherlei erreichen. Zuerst beschäftigt er die Franzosen, die ein sehr wankelmüthiges, vorzugsweise auf das Aeußerliche gerichtetes und von einem Extrem zum andern schwankendes Volk sind. Er steckt eine Masse mißliebiger junger Leute unter die Soldaten und opfert sie als Kanonenfutter; seine Soldaten verweist er auf Beute in fremdem Lande, als dessen Befreier er auftritt, und hat er Glück, nun, so erobert er und stopft den Franzosen den Mund so voll mit „gloire“, mit Ruhm, daß sie lange daran zu kauen haben. Ein solcher Ruhm, das heißt napoleonisches Kriegsglück, würde den Despotismus in Frankreich nur noch mehr befestigen.

Seit vierzehn Monaten war es sonnenklar, daß der französische Gewalthaber seine ersten Hebel zur Eroberung, bei welchen er es in letzter Instanz auf Deutschland abgesehen hat, in Italien ansetzen werde. Dort hatte er schon in früher Jugend den Revolutionair gespielt, sich in Carbonarilogen aufnehmen lassen und zu Forli im Kirchenstaate dem Vater Orsini’s den Eid auf den Dolch geleistet. Er ist aber ein falscher Bruder gewesen, hat die Carbonari verrathen, und deshalb schworen sie ihm Rache. Orsini der Jüngere versuchte ihn am 14. Januar 1858 zu ermorden, aber das Bombenattentat mißlang.

Als der erste Schreck vorüber war, faßte der ehemalige Carbonaro in den Tuilerien den Plan, diesen Mordversuch zu seinem Vortheil auszubeuten, und man muß ihm zugestehen, daß er ein wahres Meisterwerk macchiavellistischer Politik zu Stande gebracht hat. Freilich wird dasselbe durchschaut, wenigstens in Deutschland. Von Italien gingen die Attentate gegen das Leben dieses Kaisers aus; Orsini, der Mörder, wurde von den Italienern, die sittlich sehr entartet sind, wegen seiner That gepriesen. Jetzt kam es darauf an, diese gefährliche Stimmung zu ändern und zugleich gegen Oesterreich einen Schlag zu führen, um diesem Staate in Italien Verlegenheit zu bereiten. Denn auf Oesterreich war es zunächst abgesehen. Nun läßt der Zwingherrscher der Franzosen sich von dem italienischen Mörder einen Brief schreiben, und in diesem sich als Heiland und Retter Italiens proclamiren.

Kein Mensch glaubt, daß Orsini selbst diesen Brief, so wie er vorliegt, geschrieben hat oder geschrieben haben kann, denn er trägt das Gepräge der Fälschung offen an der Stirn. Er ist in durchaus correctem Französisch abgefaßt, dessen Orsini gar nicht vollkommen mächtig war. Denn sein Testament an seine Kinder, das er auch französisch niederschrieb, wimmelt von Sprachfehlern. Weshalb soll der Mörder nun den Brief an Napoleon, in welchem dieser von demselben Mörder als Befreier Italiens bezeichnet wird, in untadelhaftem Französisch, das Testament aber in fehlerhaftem Französisch abgefaßt haben? Jedenfalls hat Napoleon den Brief, wenn ein Concept Orsini’s vorlag, so abändern lassen, wie er ihn für seine Zwecke gebrauchen wollte.

Dieser Brief des Mörders ist als Actenstück wichtig, denn er bildet den Ausgangspunkt für die gemeingefährliche Politik des Napoleonismus seit fünf Vierteljahren; der Mörder hat dem Kaiser sein Programm der Ruhestörung Europa’s vorgezeichnet. Man ließ Orsini aus dem Gefängnisse Mazas unter dem 11. Februar 1858 an Napoleon III. schreiben, daß er sich nicht vor demjenigen demüthigen wollte, welcher die Freiheit seines unglücklichen Vaterlandes im Entstehen gemordet habe, dessen ungeachtet wolle er am Ziel seiner Laufbahn den letzten Versuch wagen, um Italien zu Hülfe zu kommen. Dann gibt er dem Decemberkaiser folgende politische Anweisungen:

„Um das jetzige Gleichgewicht in Europa aufrecht zu erhalten, muß Italien unabhängig gemacht oder es müssen die Ketten, unter denen Oesterreich es in Sclaverei hält, fester geschmiedet werden. Fordere ich für Italiens Befreiung, daß das Blut der Franzosen für die Italiener vergossen werden solle? Nein, so weit gehe ich nicht. Italien verlangt blos, daß Frankreich nicht intervenire; es verlangt, daß Frankreich Deutschland nicht gestatte, daß dieses Oesterreich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_300.jpg&oldid=- (Version vom 25.5.2023)