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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Ueber Günther’s Oberlippe etwas zu sagen, ist schwer, da auch nicht eine Spur davon vorhanden war. Um für diesen Mangel zu entschädigen, hatte Mutter Natur die untere Partie des Gesichts desto verschwenderischer bedacht und die Gestalt des Unterkiefers durch Länge und Schwere der Nase würdig gebildet.

Es läßt sich wohl ohne Uebertreibung sagen, Günther war nicht schön mit diesen „unmöglichen“ Formen. Man könnte sogar weitergehen und behaupten, er war häßlich, sehr häßlich, so häßlich, daß es wirklich seiner vielen außergewöhnlich guten Eigenschaften bedurfte, um ihn in der Gesellschaft zu leiden. Er war aber in derselben nicht nur gelitten, sondern sogar gesucht und gefeiert. Selbst der hohe und gewöhnlich sehr exclusive schlesische Adel sah ihn außerordentlich gern in seinen Kreisen, und da Günther im Besitz eines bedeutenden Vermögens war, das er, nach dem Tode seiner Eltern frühzeitig mündig gesprochen, selbstständig verwaltete, so befand er sich auch in der Lage, mit den jungen Edelleuten der Provinz auf gleichem Fuße zu leben.

So viel über den ersten Helden dieser Erzählung, die deren zwei aufzuweisen hat.

In einer der weniger lebhaften Seitenstraßen Breslau’s befand sich das Schnitt- und Kurzwaaren-Geschäft des Jakob Eli Lissauer. Bei ihm war Alles zu kaufen, dessen man in der Haus-, Hof-, Garten- und Küchenwirthschaft nur irgend bedarf. Nebenbei war Lissauer nicht abgeneigt, mit jungen Leuten, die sich in Geldverlegenheit befanden, kleine Geschäftchen zu machen, und man muß es ihm zum Ruhme nachsagen, er nahm christlichere Procente, als viele seiner christlichen Nachbarn, und war überhaupt ein braver, reeller Mann. Nur Geschäfte wollte er machen um jeden Preis und er versäumte nichts, was zur Erfüllung dieses Zweckes führen konnte. Daher kam es auch, daß sein Laden und sein Name auf der Breslauer Universität sehr bekannt war und, je nachdem geborgt oder zurückgezahlt werden mußte, einen guten oder fatalen Klang hatte.

Lissauer war einige zwanzig Jahre alt, hielt ungemein auf sich und seine Toilette und war wegen seiner Schönheit bei den Mädchen der Nachbarschaft förmlich berühmt. Die Mädchen seines Stammes aber, die Sarah’s, Lea’s und die Judith’s, waren ganz hingerissen und bezaubert von dem schönen Jakob Eli. Welche Mühe gaben sie sich, ihn in ihr Netz zu ziehen! Lissauer’s Herz hatte aber bisher keine Entscheidung getroffen, obwohl es schien, daß die Rahel Liepmann mit ihren blitzenden, schwarzen Augen den Sieg über den Spröden davontragen würde. Nur wollte Meyer Liepmann, der Vater, die Passion seiner Rahel nicht eben gut heißen, denn er war reich, sehr reich, und Lissauer, wenn auch voller Gaben und Talente „für’s Geschäft“, wenn auch schön und begehrt, doch immer nur ein kleiner Anfänger.

Schön war er aber in der That. Er besaß die herrlichsten schwarzbraunen Haare, eine freie, edelgeformte Stirn, große, funkelnde Augen und eine Nase – o, eine Nase, wie sie in so schönen und reinen Linien sonst nur in der Antike vorkommt. Maler und Bildhauer benutzten sie gern als Vorbild bei ihren Arbeiten und zahlten willig eine höhere Vergnügung für diese Abkonterfeiung, denn in ganz Breslau war nicht eine zweite Nase von so tadellosem Ebenmaße aufzutreiben. Ja, das war eine Nase! O, Du armer Günther, wenn mir Deine Nase dabei einfällt!

Günther und Lissauer waren gute Freunde. Ich will damit nicht sagen, daß sie sich besuchten und zum Abendessen einluden, aber wenn sie sich begegneten, versäumte Günther niemals zu sagen: „Guten Morgen, Herr Lissauer. Wie gehen die Geschäfte?“ worauf Jakob Eli die stehende Redensart erwiderte: „Danke bestens, Herr Baron“ – Barone waren die Studenten alle in Lissauer’s Augen – „man muß immer zufrieden sein!“

Dann gingen Beide lächelnd weiter, Lissauer wohl gar mit leisem Kopfschütteln vor sich hinmurmelnd: „Soll mir Gott, – ’s ist doch ’ne schändliche Visage! Jakob Eli, danke dem Gott deiner Väter, daß du nicht aussiehst, wie der!“ Dabei blieb er auch wohl an dem nächsten Schaufenster stehen, warf einen zufriedenen Blick auf seine Gestalt, deren Spiegelbild die großen Scheiben zurückstrahlten, zupfte die Vatermörder ein wenig in die Höhe und schritt stolz und vergnügt weiter.

Einmal vor langer Zeit hatte Lissauer Günther in seiner Behausung aufgesucht und ihn um seine Vermittelung bei einer Zahlungsangelegenheit gebeten. Durch Günther’s bereitwilligen Beistand war diese Angelegenheit zur Zufriedenheit aller Theile geordnet worden und Lissauer’s gute Meinung von Günther stieg seit diesem Tage bis zur höchsten Verehrung, um so mehr, da dieser niemals eine Gegengefälligkeit verlangt hatte. Noch nie war Günther bei Lissauer gewesen, um so erstaunter war Letzterer, als er den Studiosus plötzlich in der Dämmerstunde eines Herbsttages bei sich eintreten sah. Bestürzt riß er an der Schürze, die er zur Conservirung seines Anzuges im Laden zu tragen pflegte, und gelangte endlich unter unaufhörlichen Dienern und Kratzfüßen zu dem glücklichen Resultate, dieselbe zu entfernen.

„Herr Baron, womit kann ich dienen? Welche Ehre, daß Sie mich auch einmal besuchen! Befehlen Sie über mich!“ stammelte er, während die zwei kleinen Lehrlinge mit den blaurothen Händen nicht wußten, ob sie ebenfalls Verbeugung machen oder über den „Nasenmann“ lachen sollten. In ihrer Ungewißheit standen sie mit offenem Munde da.

„Guten Morgen, Herr Lissauer,“ rief Günther. „Nun, wie gehen die Geschäfte?“

„Nu, man muß immer zufrieden sein, Herr Baron! Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?“

„Ich möchte Sie in einer wichtigen Angelegenheit ein Viertelstündchen unter vier Augen sprechen.“

„Belieben der Herr Baron nur dahinein in mein Comptoir zu spazieren, ich stehe zu Befehl.“

Günther ging voran. Händereibend und unter fortwährenden Verbeugungen und erfreuten Ausrufungen folgte ihm Lissauer in das kleine Hinterstübchen, zog die Thür fest hinter sich zu und schob die Gardinen vor den Glasfenstern derselben dicht zusammen. Wer aber erfahren möchte, was Günther zu diesem Besuch bei Jakob Eli bewog, der muß zuvor einen Rückblick thun.


Im Hotel zur „goldnen Gans“ in Breslau wurden eines Abends große Vorbereitungen zu einem Souper gemacht, mit welchem Graf Neurode eine gegen den Grafen von Clarenstein verlorene Wette zu bezahlen hatte.

Vier der nähern Freunde und Studiengenossen beider Herren, und unter diesen auch Günther, waren zu dem Festmahl eingeladen worden. Günther verkehrte, wie bereits erwähnt ist, vielfach mit der Aristokratie. Er war jedoch kein Anhängsel derselben, kein privilegirter bürgerlicher Spaßmacher, wie es deren genug gibt, die für ein gutes Abendessen und für die Ehre, sich öffentlich mit so vornehmen Leuten zeigen zu dürfen, sich Alles gefallen lassen. Im Gegentheil, meistens war es Günther, der seine Genossen mit schonungslosem Witz und beißender Satire geißelte. An Schärfe des Verstandes kam ihm keiner gleich, und da er ein heiterer, liebenswürdiger Gesellschafter war, so unternahmen seine Bekannten selten etwas, ohne ihn zur Theilnahme aufzufordern.

Einer der heute Eingeladenen – Baron Posen – war ein noch ganz junges Herrchen und hatte erst vor Kurzem die Universität bezogen. Auch sein Busenfreund, Graf Mellin, war kaum des Schulzwanges und des moralisirenden Hofmeisters ledig, – und Beiden schmeckte die Freiheit des Studentenlebens doppelt süß. Vor keinem leichtsinnigen Streiche scheuten sie zurück, sobald derselbe ihnen Unterhaltung versprach, aber sie verbanden mit jugendlichem Uebermuthe einen liebenswürdigen Charakter, und hatten mehrfache Proben eines guten Herzens gegeben. Posen war ein hübscher Jüngling, aber er hielt sich auch für unwiderstehlich. In geringerem Maße galt Beides von Mellin, doch legte dieser ein großes Gewicht auf seine hohe Geburt und seinen Reichthum. Beide hatten sich – wie man zu sagen pflegt – die Hörner noch nicht abgelaufen, doch sollte ihnen im Umgange mit Günther die beste Gelegenheit dazu werden. Der sechste Tischgenosse beim heutigen Abendessen war der Baron von Leitmersdorf, ebenfalls Student, ebenfalls sehr jung und ebenfalls der Sohn wohlhabender Eltern.

Graf Neurode war der Erste auf dem Platze. Als Festgeber mußte er vor dem Erscheinen seiner Gäste noch einen Blick auf die Zurüstungen werfen und sich überzeugen, ob Alles nach seiner Anordnung ausgeführt sei. Nach und nach stellten die jungen Leute sich ein, nur Günther fehlte zuletzt noch. Als man ihn aber eine halbe Stunde nach der zur Versammlung festgesetzten Zeit vergeblich erwartet hatte, wurde man ungeduldig und gab einem Kellner den Auftrag, den Saumseligen „lebendig oder todt“ herbeizuschaffen. Kaum aber war der Bote entsandt, als Günther eintrat. Man empfing ihn mit lauten Acclamationen und vielen Scheltworten, aber er ließ sich durch nichts aus seiner Ruhe bringen. Ohne auf alle Ausrufungen zu achten, die ihn umschwirrten, schritt er auf

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_282.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)