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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

No. 20. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Die schönste Nase.
Von F. J.


In einer Vorlesung über Phrenologie und Physiognomik hörte ich von dem Professor einst folgenden Satz aufstellen:

„– Jeder Mensch wird mit gewissen Grundformen des Kopfes und besonders des Gesichtes geboren, die ihm von der Natur als unabweisbares Geschenk mit auf die Welt gegeben werden. Für diese kann er nichts. Zu verantworten hat er es aber – mittelbar seine Eltern und Erzieher – wie diese Grundzüge sich später ausbilden. Erst die Neigungen und Leidenschaften, die Tugenden oder Laster, die ihn beherrschen, bilden und formen im Laufe der Zeit die Gesichtszüge des Menschen.“ –

So sagte der Professor und suchte dem Häuflein seiner Zuhörer die Wahrheit dieses Satzes an einer großen Menge von Schädeln, Büsten und Portraits zu beweisen. Mit Geschick hatte er auch eine Kopfschablone angefertigt, welche, aus einzelnen Theilen zusammengefügt, je nach Wunsch verändert werden konnte. Bald wurde dem Kopfe eine flache, niedrige, bald eine hohe, gewölbte Stirn gegeben. Nasen, von dem sogenannten Wolkenriecher bis zu der über den Mund hinabreichenden, wechselten mit eben so mannichfaltigen Mündern und Kiefern.

Auf diese Weise gab der Professor einem Gesichte, je nach der Zusammensetzung, jeden ihm beliebigen Ausdruck. Zugleich stellte er aber auch, wie er sagte, „unmögliche“ Gesichter zusammen und demonstrirte nicht ohne Glück, daß eine so und so geformte Stirn mit einer so und so gestalteten Nase und derartigen Lippen niemals vereint vorgekommen wären und daß eine solche Vereinigung auch ganz unmöglich erscheine, weil immer einer dieser Gesichtstheile auf Eigenschaften und Fähigkeiten hinweise, die, nach dem Baue der andern zu schließen, völlig in Abrede gestellt werden müßten.

Ein solches nach Aussage des Professors absolut unmögliches Gesicht trug der Studiosus juris et cameralium, Ernst Günther in Breslau in der Woche, sowie an Festtagen öffentlich zur Schau. Er that sogar ganz unbefangen mit diesem Gesichte, obgleich ihm dessen Eigenthümlichkeiten eben so bekannt waren, wie jedem Anderen, und verspottete es oft noch mehr, als seine Bekannten und Freunde, die es keineswegs daran fehlen ließen.

Günther hatte fast gar keine Stirn, man müßte denn die schmale, zwischen buschigen Augenbrauen und dichten, struppigen Haupthaaren hinlaufende Bahn mit diesem Namen beehren wollen! Viel – das heißt der Masse nach – Gehirn konnte hinter dieser fast concaven Fläche nicht verborgen sein, darum mußte es durchaus besserer Qualität sein, denn was Verstand und Witz betraf, so nahm Günther es mit Jedem auf, der den bewußten Kasten mit der vielversprechendsten Wölbung besaß und hinter diesem die größtmögliche Masse weicher Substanz bergen mochte. Hatte man einmal das Glück, Günther’s Augen zu erblicken, so sah man aus dem Blitze derselben sogleich, weß Geistes Kind man vor sich hatte. Dies Glück wurde Einem aber selten zu Theil, denn jene Augen lagen tief im Kopfe, waren sehr klein und wurden durch schwere Augenlider halb verdeckt.

Ich komme nun zur Nase, diesem wichtigen und interessanten Vorbau des menschlichen Antlitzes. Wo aber nehme ich Worte her, um Günther’s Nase, die Nase aller Nasen, geschichtlich treu zu beschreiben?

Ganz Breslau war voll von dieser Nase, sowohl bildlich, als räumlich! – und die liebe Straßenjugend rief, sobald Günther sich sehen ließ: „Die Nas’ kummt, die Nas’ kummt!“ Aber nur der ältere Theil des hoffnungsvollen Nachwuchses besaß diese Kühnheit. Die Kinder unter acht Jahren und besonders die kleinen Mädchen gaben in Angst und Schrecken Fersengeld, sobald sie nur von weitem die Nase kommen sahen. Was für ein Gedicht hätte der Besinger von Wahl’s Nase machen müssen, hätte er erst Günther’s Nase gekannt!

Nicht sowohl die außerordentliche Dicke und Lange derselben, nicht ihre überkühne Biegung machte sie so berühmt; es war vielmehr die Art und Weise, wie sie sich bergab senkte. Anfangs ging das Nasenbein gerade aus, sehr bald aber erachtete es den geraden Weg nicht als den besten, sondern bog sich ganz bedeutend nach der rechten Seite. Aber auch diese Richtung schien ihr nicht zu behagen, darum lenkte sie ganz allmählich wieder nach links, warf sich aber, nach der Spitze hin, plötzlich und überraschend wieder nach der rechten Seite zurück. Wenn man, von der Stirn ausgehend, in senkrechter Richtung über Günther’s Antlitz eine Linie gezogen hätte, würde dieselbe nicht auf dem Nasenrücken entlang gelaufen sein, sondern diesen zwei Mal, oben an der Wurzel und unten an der Spitze geschnitten haben. Ob Günther – ich folge hierbei meinem Professor – mit dieser eigenthümlichen Nasengestalt zur Welt gekommen, oder ob dieselbe später durch seine Schuld und durch die ihm innewohnenden Eigenschaften so wunderbar entwickelt worden war, vermag ich nicht zu entscheiden, da der Träger des Pisa-Thurmes über dessen Entstehungsart hartnäckiges Stillschweigen beobachtete. Mir kam es stets vor, als sei Günthers Gesicht ein aus Guttapercha geformtes, auf dem man mit den Fingern künstliche Unförmlichkeiten hervorbringt, und ich erwartete oftmals, ob sich nicht auch bei Günther, wie bei diesem, die ursprüngliche Form langsam von selbst wieder herstellen werde. Aber es blieb, wie es war, und es steht zu befürchten, daß es ewig so bleiben wird!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_281.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)