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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

zurückgelassen hat, wirst Du die merkwürdigsten Wesen des Thier- und Pflanzenreichs finden. Vielleicht besuchst Du das Felseneiland Helgoland, oder es lockt Dich der Ruf Nordernei’s oder die Neuheit Borkums oder die Stille Blankenberges, oder der trügerische und betrügerische Lärm Ostende’s: versäume dann nicht, wenn Du im erfrischenden Nachthauche stürmischer Tage am Meeressaume hinwandelst, auch den Anspülungen der Wellen Deine Aufmerksamkeit zu widmen; Du wirst nicht selten die heitersten Farben, die abenteuerlichsten Gestalten erkennen. Nimm einige der verwickelten Zweiglein und Faserverschlingungen mit Dir; auf einem Teller mit Wasser fließen sie zu den reizendsten Formen, zu den anmuthigsten Windungen auseinander, und ziehst Du Licht und Linse zu Hülfe, so blühen Dir aus den Knospen zierlicher Bäumchen vielleicht Tausende von strahlenden Polypensternen und Fühlerbüscheln entgegen.

Freilich ist der Sand unserer Küsten nicht so bevölkert, als an andern Gestaden. Es gibt weite Sandbänke, welche voll sind von den Schälchen lebender oder todter Foraminiferen, jener winzigen Geschöpfe mit durchlöcherten Kalkgehäusen, die ganze Felsen und Erdschichten gebildet haben. In einer Unze Sandes von den Antillen sollen ja über drei Millionen solcher Schalthiere gefunden worden sein. Allein solche Erscheinungen dürfen nicht ohne Weiteres verallgemeinert werden, wie das zuweilen von denen geschieht, die eilfertiger im Schreiben als im Beobachten sind. Der Küstensand unserer Nordseegestade enthält solche Lebensfülle nicht.

Wer hat nicht von jenen wunderbaren Geschöpfen gehört, die in der Südsee und in den indischen Meeren trotz aller Winzigkeit ganze Felsenriffe, ja ausgedehnte Inseln, aufgebaut haben? Wer weiß nicht, daß alljährlich bedeutende Korallenmassen aus der Tiefe des Mittelmeeres hervorgeholt werden? Solche Erscheinungen bieten unsere Gestade nicht. Die Polypen des deutschen Meeres, welches wir vorzugsweise im Auge haben, bilden kein Korall, sondern hornichte oder faserige und zellige Stämme, die bald nach dem Absterben des Gesammtthieres zergehen; das einzige Gewächs, welches dem Korallenstoff mehr gleicht, und daher auch corallina genannt wird, ist kein Thier, sondern gehört zu den Tangen (eine Art Algen).

Aber darum sind die Vielfüßler unserer Küsten kaum minder merkwürdig, als jene Korallenthiere ferner Gewässer. Was ihren Gebilden an Großartigkeit und Dauerhaftigkeit abgeht, das gewinnen sie an Zierlichkeit und schlanker Anmuth. Dabei nehmen sie nach Bau und Wesen das lebhafteste Interesse in Anspruch. In der That kann nicht leicht etwas auffallender und wunderbarer sein, als die Gestalt ihrer Gesammtwohnungen, als die Art ihrer Fortpflanzung. Wenn die Korallen des Südens Jahrtausende lang für Pflanzen und dann sogar für Steinbildungen gehalten wurden, so gelten die Sertularien und Campanularien unserer Meeresstriche dem Unkundigen noch jetzt für Seetange. Selbst die Mehrzahl der Gebildeten theilt gewöhnlich diesen Irrthum. Wie oft bin ich den ungläubigsten Blicken begegnet, wenn ich eine kleine Sammlung von Algen und Pflanzenthieren vorzeigte und zu den „reizenden Bäumchen“ bemerkte, daß sie die Behausungen von Thierfamilien gewesen, deren tausendfältige Glieder und Sprossen aus den knospenähnlichen Zweigspitzen oder Seitenkelchen zu Tage getreten seien.

Es hält nicht schwer, die Bekanntschaft solcher Thiergeschlechter zu machen und ihre Lebensweise näher zu beobachten. Zwar sind manche so klein, daß nur ein scharfes und geübtes Auge ohne Hülfe eines Vergrößerungsglases die Bewegung der Fühler und Fangarme, mit denen die Einzelthiere meist unausgesetzt thätig sind, zu erkennen vermag; allein bei vielen reicht schon eine gute Linse aus, um das Spiel der gleich Staubfäden und Blumenblättchen sich entfaltenden Fangwerkzeuge deutlich wahrzunehmen; und andere treten selbst dem bloßen Auge in aller Pracht und Anmuth entgegen.

Besonders bieten Helgoland und Ostende bequeme Fund- und Beobachtungsstätten. Am letztgenannten Orte findet man gleichsam natürliche Aquarien oder Thierwasser, indem zwischen den Pfählen und Steinen der Wellenbrecher die zur Ebbe in den Vertiefungen zurückbleibenden Gewässer sich abklären und nach Zeit und Umständen zahlreiche Thier- und Pflanzengebilde enthalten. Es ist ein Leichtes, einige der muntern Uferkrabben, der langsamen Seesterne, der vor Anker liegenden Mießmuscheln einzufangen, einige der zierlichen Seetang- und Polypenbäumchen abzulösen und daheim in Seewasser Wochen lang am Leben zu erhalten und so mit aller Muße zu betrachten. Nur muß man Thiere und Pflanzen vereinigen, damit sie sich gegenseitig nähren und das Wasser frisch erhalten. Ein paar mit kleinen Tangen, namentlich mit den überall vorkommenden tiefgrünen Solenien besetzte Steine reichen in dieser Beziehung lange Zeit aus. Auch muß man die verdunstende Feuchtigkeit dann und wann durch Süßwasser ersetzen und allzustarkes Sonnenlicht fernhalten.

Nach stürmischem Wetter findet man auch am Strande entlang zahlreiche Polypenstämme, ja zu gewissen Zeiten ist das Ebbegestade und die Hochwassermarke förmlich damit übersäet. Namentlich gilt dies von einem Blätterpolypen, Flustra foliata, der zuweilen Meilen weit den Strand mit einer eigenthümlich scharfriechenden Ausdünstung erfüllt. Indessen sind die meisten solcher Auswürflinge gewöhnlich längst abgestorben; andere haben wenigstens durch Sturm und Wogensturz gelitten, und nur einige kehren zum Leben zurück oder treiben im Wasserbecken neue Knospen und Zweige.

Zu den zierlichsten und zugleich häufigsten Polypen bei Ostende gehören die Sertularien und die Glockenpolypen, namentlich die Silber-Sertularie und Campanularia dichotoma. Die ersteren sind gelblich oder weißlich, zuweilen glänzend hell, mit hornichten, in den Spitzen oft goldglänzenden Stämmen, von büschelförmigem, dichtbeästetem Wuchs. Sie erfreuen sich meist der besonderen Gunst der Frauen, die gewöhnlich nicht ahnen, daß sie in den zarten Gewächsen tausendköpfige Thiergebilde umfassen. Die Bevölkerung eines mäßigen Stammes oder Gebüsches, schmuck und fein genug, um das schönste Album zu zieren, kann auf hunderttausend Häupter und mehr veranschlagt werden.

Die Campanularien sind in ähnlicher Weise gebildet und unterscheiden sich von den Sertularien besonders dadurch, daß sie die Zellen der einzelnen Thiere auf den Spitzen, jene dagegen an den Seiten der Aeste und Zweige tragen. Die braunen Stämme haben eine äußerst schlanke Gestalt; sie sind meistens kaum zwirnsfadendick und bilden hauptsächlich die verschlungenen Faserknäuel, welche nach bewegtem Meere am Strande gefunden werden. Doch ist dann selten noch Leben vorhanden, indem die Zweige und Zellen meist abgestreift sind. An manchen Orten werden solche und ähnliche Polypenschafte wegen ihrer Dünnheit und ungemeinen Zähigkeit Seezwirn genannt. Wenn jung und voll Wachsthum, hat der Stamm der Campanularia dichotoma häufig die Gestalt einer italienischen Pappel; aber die Verästelung ist regelmäßiger und schreitet in steter Doppeltheilung fort; jede Zweigspitze ist mit einer weißen durchsichtigen Glocke, gleich einem Windleuchter, besetzt, worin das Einzelthier sich befindet und durch die Zweigröhre mit dem Hauptaste und durch diesen mit dem Stamme oder mit dem Gesammtthiere in Verbindung steht, wie eine Hollunderblüthe durch das Mark mit dem Baume. Das Absterben eines Nachbarzweiges oder selbst des nächsten Zwillings oder Nachkommen kümmert die Uebrigen nicht; auch ganze Aeste können ohne Anfechtung der Gesammtheit abgetrennt werden; dagegen scheint ein abgesonderter Zweig nicht fortleben zu können; wie oft ich’s versuchte, die abgeschnittenen Stücken starben schnell ab.

Das Einzelthier besteht hauptsächlich aus Magen und Fangarmen. Diese, meist gegen zwei Dutzend an der Zahl, läßt es in Gestalt von gegliederten Fäden über den Glockenrand trichterförmig hinausspielen und zieht sie, wenn die Nähe einer Beute unterstellt oder gefühlt werden mag, mit einem plötzlichen Ruck zusammen und nach innen, um den Fang zu verspeisen. Nach kurzer Zeit beginnt das Aushängen der Angelschnüre von Neuem, um von Neuem Nahrung für den unersättlichen Magen zu erwischen. Da der Polypenstock am Boden, sei es an einem Steine, sei es an einer Muschel oder an sonst Etwas, festsitzt, also weder im Ganzen, noch in seinen Theilwesen nach Nahrung ausgehen kann, so müssen die Einzelnen die umgebende Fluth um so eifriger durchfühlen, damit sie die beweglicheren und kleineren Geschöpfe, die arglos heranschießen und häufig eine fabelhafte Geschwindigkeit haben, als gute Bissen erhaschen. So ist ihr ganzes Leben ein stetes Spähen und Verschlingen.

In ähnlicher Weise treiben es andere Polypen und häufig auch Nichtpolypen. So verschieden die Stämme oder die Gesammtleiber der Vielfüßler und Vielhänder sind, so mannichfach die Form und Stellung der Einzelthiere und der Einzelwohnungen von einander abweicht, so ähnlich ist bei den meisten die Art, wie sie ihre Nahrung erlangen. Knollige, schwammige, faserige, blätterige, ästige, häutige und andere Polypen, sie alle strecken Fangarme, gewöhnlich trichterförmig, mitunter geästelt oder in sonstiger Weise in die Fluth

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_279.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)