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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

sie werde in einem Augenblicke wieder zurück sein. Nach einigen Minuten kam sie mit einem kleinen Knaben von ungefähr sieben Jahren. Ein wunderschöner Junge und in dieser Beziehung vollkommen würdig, der Sohn dieser Mutter zu sein. Er hatte blonde, lange Locken, die auf einen sehr weißen, nackten Hals herabfielen, und trug eine schwarzsammtne Blouse mit blauen Knöpfchen. Die vollen runden Beinchen waren nackt und die Füße staken in schottischen Strümpfchen. Das tiefblaue Auge dieses Kindes war, trotz des gesunden Wesens der ganzen Erscheinung, voll von Melancholie und zugleich voll auffallender, leuchtender Intelligenz. Augustine sah mit offenbarer Freude, wie ich mich an dem Anblick des holden Kindes weidete, und hörte mit Theilnahme zu, wie ich an dasselbe Fragen richtete und wie sie das Kind beantwortete. Dann nahm sie den Jungen wieder an den Schultern und führte ihn an die Thür, küßte ihn und sagte: Adieu mon bijou, geh jetzt mit Pauline in die Tuilerien. Der Knabe schickte mir noch ein Lächeln und einen freundlichen Blick zu und ging. Augustine kam zurück, setzte sich mir gegenüber auf’s Sopha und sagte: „Nicht wahr, es ist ein liebes Kind?“

„Ein prächtiger Junge, eben so schön als intelligent.“

Augustine seufzte, schien sich zusammen zu nehmen und sagte endlich: „Des Kindes wegen habe ich Sie um diesen Besuch gebeten.“

„Bitte, erklären Sie sich deutlicher.“

„Ich muß Ihnen erst sagen, Herr Doctor,“ nahm Augustine wieder das Wort, „daß ich Sie schon seit lange zu kennen die Ehre habe. Als Sie in Frankfurt waren, war ich noch in Hanau; dort habe ich oft von Ihnen gehört, später habe ich Sie in Frankfurt selbst gesehen. Vor Kurzem war hier in Paris bei einem Souper junger Leute von Ihnen die Rede. Erlauben Sie mir Ihnen zu sagen, daß man nur Gutes von Ihnen gesprochen und ernster, als junge Leute bei solchen Gelegenheiten zu sprechen pflegen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, daß Sie in Paris wohnen, und ich beschloß mich in einer wichtigen Sache, die mir seit lange schwer auf dem Herzen liegt, an Sie zu wenden. – Ich habe Freunde genug, aber Sie wissen, von welcher Art diese Freunde sind. Ich bin da, um sie zu amüsiren, nicht sie mit ernsten Dingen zu langweilen oder ihnen von Sachen zu sprechen, die mich beängstigen. Thäte ich das, sie würden mir in’s Gesicht lachen. Augustine wird sentimental, Augustine wird eine bourgeoise, Augustine wird langweilig, wird moralisch, wird dumm, würde es dann heißen und man würde mir den Rücken kehren. Im besten Falle würde man meine Sorgen, meine Angst, mein Unglück für eine neue Art von Koketterie halten. Sie, lieber Herr Doctor, werde ich trotz Allem nicht für unwürdig halten, mir einen Rath zu geben, der einem unschuldigen lieben Kinde nützen soll.“

„Bitte, sprechen Sie; ich horche Ihnen mit der größten Aufmerksamkeit.“

„Ich wollte Sie um Ihren Rath in Betreff der Erziehung meines Kindes fragen. Sie haben es gesehen. Von Tage zu Tage wird der Knabe schöner, von Tage zu Tage entwickelt sich sein Geist mehr und mehr. Er stellt mir oft Fragen, die mich auf die verschiedenste Weise in Verlegenheit bringen. Ich zittere vor dem Tage, da er mir eine gewisse Frage vorlegen wird, oder da er Alles verstehen wird ohne Frage. Was soll ich thun?“

„In wie fern? Was meinen Sie?“

„Ich habe zwischen zwei Wegen zu wählen. Entweder ich erziehe ihn, wie man in dieser meiner Welt erzieht, oder ich erziehe ihn außerhalb dieser Welt zu einem anständigen Menschen.“

„Glauben Sie, daß Sie hier noch meines Rathes bedürfen? Sind Sie zweifelhaft, für welchen dieser beiden Wege ich mich entscheiden werde?“

„Nein, gewiß nicht; aber, Herr Doctor, Sie haben nicht Alles bedacht, was ich bedacht habe; Sie ängstigt bei dieser Wahl nicht, was mich ängstigt.“

„Was ist es?“

„Lasse ich ihn in dieser meiner Welt aufwachsen, dann wird er leichtsinnig, frivol, schlecht vielleicht; er wird denken und fühlen, wie man in dieser meiner Welt denkt und fühlt; er wird nichts Anderes kennen – aber seine ganze Umgebung wird ihm eben so natürlich erscheinen, wie seine Abstammung, und es ist dann noch möglich, daß er seine Mutter liebt, sein Ursprung wird ihn nicht kränken, nicht beschweren, und er wird seine Mutter vielleicht nicht verachten – er wird so viele ähnliche Mütter, so viele ähnliche Kinder sehen. – Lasse ich ihn aber draußen in der anständigen Welt erziehen, in anständigen Ansichten und Grundsätzen aufwachsen, lasse ich seinen Geist und sein Herz sich so weit entwickeln, als sie können – wird er dann nicht doppelt unglücklich sein und wird er sich, sobald er zu Verstande kommt, von seiner Mutter nicht abwenden? Wird er seine Mutter nicht verachten? Und doch kann ich mich nicht entschließen, ihn absichtlich zu einem gemeinen Menschen zu machen – ach, es wäre so schade um das Kind, es ist so lieb, so gut, so klug. Und wieder soll ich mich von ihm verachten lassen? Soll ich es selbst herbeiführen, daß er sich einst meiner schäme? – Was soll ich thun? – Was soll ich thun? Herr Doctor, geben Sie mir einen Rath, was soll ich thun? was fange ich an?“

Sie rief diese letzten Worte im Tone der bebendsten Herzensangst; sie faltete die Hände im Schooße übereinander und sah mich fragend an. Ich gestehe es, ich war gerührt, ich war erschüttert. Ich sah, wie der Dichter sagt, durch tiefes Verderben ein menschliches Herz.

Nur das wollte ich erzählen. Meine Antwort auf diese Fragen brauche ich wohl nicht zu wiederholen. Meinem Rathe fügte ich nur noch den Trost bei, daß von einem in guten Grundsätzen erzogenen Sohne eine gute Mutter, und sei ihre Vergangenheit wie immer beschaffen, stets mehr Liebe und Achtung zu gewärtigen habe, als von einem, der ihr durch seinen Leichtsinn, durch seine Frivolität näher stehe. Ich versprach ihr, daß sie in ihrem Sohne, wenn seine Eigenschaften auf edle Weise ausgebildet würden, dermaleinst, wenn Alles sie verlassen haben wird, einen Freund, eine Stütze, einen Tröster finden werde – indem ein Sohn seiner Mutter gegenüber zur Liebe keiner anderen Ueberzeugung bedürfe, als derjenigen, daß sie eine liebende Mutter gewesen u. s. w., u. s. w.

Das und Aehnliches führte ich ihr aus, so gut es ging, und sie hörte mir zu, als ob ich ein neues Evangelium predigte. Jede Auseinandersetzung, daß sie sich ihres Kindes durch eine gute Erziehung nur desto mehr versichere, nahm sie mit einem glückseligen Lächeln hin. Dann mußte ich ihr noch einen Erziehungsplan machen. Ich war dafür, daß das Kind aus ihrer Welt entfernt werden müsse; ich glaubte, daß es am besten wäre, wenn man es in eine Erziehungsanstalt nach Deutschland schickte. – „Mein Trost,“ rief sie, „mein einziges Glück!“ und während Thränen über ihre Wangen herabfielen, beschloß sie, auch darin meinem Rathe zu folgen.

Meine Herren, ich will Ihnen noch etwas sagen, weil es die Geschichte completirt – und ich hoffe, Sie werden nicht lachen. Als ich ging, faßte Augustine meine Hand, und ehe ich mich dessen versah, hatte sie einen Kuß darauf gedrückt. Ich habe sie seit damals noch einmal besucht. Ihr Kind war in Heidelberg.




Strand- und Dünenleben.
Von Friedrich Oetker.
I.

Leben am öden Seegestade? Leben in den dürren Sandhügeln? Das wird vielleicht Manchem ein Widerspruch erscheinen. Und doch ist es nicht so. Die kahlen, unabsehbaren Flächen und Streifen, die an der züngelnden Meerfluth sich hinziehen, sind der ewig wogende Schauplatz von Entstehen und Vergehen, von Tod und Leben, und selbst die Höhen und Niederungen, womit Sturm und Brandungsschwall die Seeküsten sandig umgrenzen, decken sich mit mannichfachem Wachsthum, zwischen denen eine regsame Thierwelt sich umhertreibt. Merke nur auf, lieber Leser, wenn Du einmal am Fluthrande hinschreitest oder den ebbenden Gewässern nachgehst! Bei jedem Schritt wirst Du auf den Spuren zahlloser Geschöpfe stehen, und wenn Du im knirschenden Sande oder in den bleibenden Wassertümpeln nachsuchst, wenn Du die unscheinbaren Geschiebe und Knäuel von Muschelwerk und Fasern entwirrst, welche die Fluth

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_278.jpg&oldid=- (Version vom 10.5.2023)