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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

über den Ideenkreis des Treubundes hinausgedacht und alle Festtage der Novembermänner mit dem Pocal in der Hand begangen, die sich nur in Gesellschaft graubärtiger pensionirter Officiere glücklich gefühlt, und einen Vorrath gefüllter Oellampen nebst einem patriotisch anzüglichen Transparent zu einer unerwarteten Illumination stets im Hause hatten, stiegen aus ihrer vornehmen Höhe plötzlich herab in die gemeinen Hallen des bayrischen Bieres und der frischen Würste mit Sauerkraut, sprachen begeistert für die Heilighaltung der Verfassungsparagraphen, lauschten auf die Bedürfnisse des Volkes, redeten geringschätzig von der Polizei und dem Preßbureau am Molkenmarkt, abonnirten auf bissige liberale Zeitungen und schnauzten die armen Botenweiber, welche am Anfange des neuen Vierteljahres die bisherigen Blätter in’s Haus brachten, so wüthend an, als wären sie die Verfasserinnen der Leitartikel und die vertheidigenden Amazonen des Herrenhauses. Nur mit Erröthen gestehen wir, daß auch Herr Müller sich dieses Leichtsinnes im Wechsel der politischen Ueberzeugung schuldig machte.

„Liebes Kind,“ rief der große Mann an einem Tage aus, als er gelesen, daß für die Kammern neu gewählt werden solle, und seine besorgte Gemahlin ihn gefragt hatte, ob es nicht des zu erwartenden Aufstandes wegen räthlich sei, alle Gelder und Pretiosen einzupacken, die Vorhänge herunterzulassen, die Thüren zu verschließen und nach Dessau in Sicherheit zu fahren, „liebes Kind, Du hast eine ganz falsche Vorstellung von der Situation – hoffentlich weißt Du, was eine Situation ist? – unter den Wölfen mußte man mit heulen, unter den Schafen muß man mit blöken. Es kommt wieder eine andere Schattirung von Constitutionalismus in die Mode. Sagte ich Schattirung? nein, nicht Schattirung! eine andere Phase! Bisher genossen wir einen Pseudoconstitutionalismus, der sich zu dem echten etwa wie der Cichorienkaffee der Köchin zu Deinem starken Morgenkaffee verhielt. Ich wage nicht zu sagen, ob wir schon den echten Constitutionalismus bekommen werden, allein so viel steht fest: aus dem Ministerium ist viel Cichorie ausgeschieden!“

Da dieses Gleichniß für die Gemahlin etwas ungemein Ansprechendes besaß, schenkte Madame Müller ihrem Gemahl geneigtes Gehör und derselbe fuhr fort, ihr sein Absichten für die Zukunft auseinanderzusetzen.

„Ich beabsichtige,“ sagte der ausgezeichnete Politiker, „zunächst Wahlmann zu werden und dann, wenn mir das Glück hold ist, als Abgeordneter in die Kammer zu treten und das gegenwärtige Ministerium zu stützen. In mir liegt etwas, das mich für jedes bestehende Ministerium zu stimmen zwingt. Hast Du von der Wünschelruthe gehört? Sie verbeugt sich tief, wo Wasser oder Metall in der Erde verborgen ist. Gerade so ergeht es meinem Rücken mit den Ministerien. Das liegt in der menschlichen Natur, das kann man sich nicht geben, nicht in sich unterdrücken; das ist jene Magie, von der die neuesten Naturphilosophen reden. Wer wagte wohl diese wunderbare Erscheinung zu erklären!“

„Wirst Du aber auch gewählt werden, lieber Anton?“ fragt das bedächtige Weib seiner jugendlichen Wahl.

„Warum sollte ich nicht gewählt werden? War ich nicht schon oft genug Wahlmann und braucht man gegenwärtig nicht Männer, diese seltene Waare in einem Zeitalter der Verworfenheit? Sei so gut, liebes Kind, und kaufe mir morgen eine schwarze Mappe bei Treu in der Leipziger Straße oder bei Moßner in der Burgstraße, wenn Letzterer nicht allzu theuer sein sollte.“

„Aber wozu denn eine schwarze Mappe, Anton?“

„Weil alle Deputirten schwarze Mappen tragen,“ antwortet Herr Müller mit wichtiger Miene; „was für den Minister das Portefeuille mit den Gesetzen, ist für den Abgeordneten die biegsame schwarze Mappe mit den Gesetzesvorlagen. In der Kammer legt er sie vor sich auf das kleine Pult; auf der Straße trägt er sie unter dem Arme. Sie gibt ihm erst das gehörige Ansehen vor den Leuten. Ich habe nie begreifen können, wie die Blätter immer von den Portefeuilles der Minister und niemals von den schwarzen Mappen der Abgeordneten reden; Beide sind nichts ohne dergleichen bedeutsame Fabrikate aus Buchbinderhänden!“

Diese treffliche Auseinandersetzung überzeugt vollständig die folgsame Gattin, und sie beeilt sich, bei Gelegenheit ihres nächsten Ausganges, die sehnsüchtigen Wünsche ihres Gatten zu befriedigen. Die schwarze Mappe, ein Muster von Biegsamkeit und Korduan, wird angeschafft und auf dem Schreibtische des zukünftigen Staatsmannes niedergelegt, eine Augenweide für alle Hausbewohner, wenn sie kommen, die Quittung über die gezahlte Miethe in Empfang zu nehmen.

Inzwischen haben die Wahlbewegungen begonnen und werden mit Heftigkeit fortgesetzt. Wir wollen nicht die Einrichtungen des Staates verkleinern oder gar die Vertreter des Volkes verdächtigen, allein die Wahlmänner scheinen uns niemals aus einer scharfsinnigen Erwägung aller persönlichen und politischen Umstände, sondern aus puren Gemüthsbewegungen hervorzugehen. Sie sind nur die „Söhne einer naiven Gefühlspolitik“. Diese Helden müssen in den meisten Fällen bestimmte gemüthliche Eigenschaften besitzen, wenn sie den Urwählern wohlgefallen sollen. Man liebt sie mit tiefen bebenden und rührenden Stimmen, wie sie aus einem fleißigen Biergenusse hervorzugehen pflegen; man schätzt an ihnen ein biederes Pathos, vorgeschuht mit freimüthigen, aber nicht allzu scharfen Phrasen; besonders gesucht sind Märtyrer, denen einmal die Paßkarte oder die Gewährung irgend eines unnützen Gesuches verweigert worden. Besitzen sie eine stets gefüllte Cigarrentasche, mit deren Inhalt sie in den Vorversammlungen nicht sparsam sein dürfen, so wird dieser Umstand ihren Wahlaussichten nicht schädlich sein. Lassen sie sich die Mühe nicht verdrießen, bei den Urwählern die Runde zu machen und ihnen in der Mitte ihrer Familien und Werkstätten Besuche abzustatten oder ihnen bei künftig vorkommenden Bauten Arbeit zu versprechen, so ist Alles geschehen, was in der Macht eines weisen Mannes steht. Es handelt sich hier wirklich nur um Gefühlspolitik.

So wurde denn der ausgezeichnete Mann, mit dessen politischer Laufbahn wir uns beschäftigen, in der That mit einer starken Majorität zum ersten Wahlmanne seines Bezirkes erwählt.

„Meine politische Berechnung ist richtig gewesen,“ sagte Herr Müller, als er nach der Wahl etwas schwerfällig in das Zimmer der Gattin trat, denn er hatte mit einigen einflußreichen Urwählern auf das Wohl des liberalen Ministeriums seinen brennenden Durst gestillt, „der erste Schritt ist geschehen; ich bin Wahlmann!

Nach diesen Worten, die mit einem unbeschreiblichen Anstande gesprochen wurden, ergriff er sinnend die schwarze Mappe, öffnete sie, fuhr auf Probe tief mit der Rechten hinein, als wollte er das Manuscript einer fulminanten Rede gegen das Jagdrecht oder die Zeitungssteuer herausziehen, und flüsterte halblaut: „Ich will Abgeordneter werden.“

Die Wahl der Abgeordneten beruht leider nicht auf Gefühlspolitik. Die Herren Wahlmänner, ihres bedenklichen Ursprunges eingedenk, haben vielmehr einen wahren Abscheu gegen Gefühlspolilik und gehen mit den auftretenden Candidaten um, wie die Examinatoren mit jenen unglücklichen Referendarien, welche sich zum dritten Examen, dem des Assessors, gemeldet haben, ohne die nöthigen glänzenden Geistesgaben zu besitzen, welche zu diesem im glücklichsten Falle von Diäten lebenden Amte gehören. Die auftretenden Candidaten zur Volksvertretung oder „Landbotschaft“ werden moralisch geprüft und gesichtet, wie die berüchtigten Verdünnungen in der homöopathischen Apotheke. Die Wahlmänner mustern ihre Vergangenheit und Gegenwart; sie müßten sogar über ihre Zukunft Rechenschaft ablegen, wenn die Vorsehung in diesem Punkte nicht den Menschen und Wahlmännern einen Riegel vorgeschoben hätte. Man fragt nicht allein nach ihren Thaten, Schriften und Reden; man zwingt sie, alle ihre Gedanken im Laufe des letzten Jahrzehends auszuplaudern. Das Geringste ist noch, wenn man förmliche Examina in verschiedenen speciellen Fächern mit ihnen anstellt. Glänzende äußere Eigenschaften pflegen nicht zu entscheiden. Der sogenannte „gesinnungstüchtige Mann der Wahlmannschaft“ genügt hier nicht, höchstens in einem weit von der Hauptstadt entfernten Wahlkreise; man fordert gelehrte, consequente, liberale und charakterfeste Männer, insofern sie überhaupt zu haben sind.

Wir würden die schrecklichen Scenen beschreiben, welche der unglückliche Candidat Müller durchmachen mußte, fürchteten wir nicht, die Nerven unserer Leser zu tief zu erschüttern. Man erinnerte ihn an eine gewisse Adresse, an einen Huldigungsbesuch bei dem Novembermanne, an das Arrangement eines Bezirksballes mit Treubundsgesängen bei Tafel, man vernichtete ihn vollständig als politischen Charakter, und nur eine unbekannte Stimme ließ sich schließlich hören und nannte ihn noch „eine alte Wetterfahne“.

Der Verlorene schwankte nach Hause und wurde um zehn Uhr Abends von dem das Haus zuschließenden Nachtwächter auf dem Flur gefunden. Der rasch herbeigerufene Arzt ließ ihm aus Furcht

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