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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

flackernden Augenleuchten des alten Mannes sich nicht das plötzliche, durch die Erinnerung an das Verbrechen veranlaßte Wiedererwachen eines Wahnsinns anzukündigen, der vielleicht seit kürzerer, vielleicht seit längerer Zeit ruhig geschlummert hatte?

Ich dachte zugleich wieder an das auffallende Benehmen des Pater Theodorus, als der Secretair ihn nach jenem Kriegsereignisse gefragt hatte. Ich glaubte auf einmal einen Faden in ein tiefes, dunkles Labyrinth gefunden zu haben. Ich mußte ihn weiter verfolgen; freilich konnte ich es nur an der Hand der wenigen Gerüchte, die ich von dem Secretair und aus dessen Gespräch mit dem Pater entnommen hatte. Der Kranke hatte mir auf meine Frage nicht geantwortet.

„In manchen Gegenden Deutschlands,“ fuhr ich fort, „fielen in jener Zeit ähnliche kleine Gefechte zwischen den Franzosen und den verfolgenden Feinden vor. Sie haben gewiß davon gehört?“

„Ja, ja,“ sagte er, lebhafter, als bisher.

„Die armen Franzosen waren immer verloren. Entgingen sie dem Tode im Gefechte, so fiel das Volk über sie her.“

Er nickte mit dem Kopfe.

„Entgingen sie auch der Grausamkeit des Volkes, wurden sie selbst hülfreich, mitleidig aufgenommen – wie oft wurden sie hinterher das Opfer habsüchtigen, räuberischen, raubmörderischen Verraths!“ Ich hatte ihm fest, scharf in das Auge geblickt, während ich diese Worte sprach.

Anfangs war es, als wenn er noch einen Versuch gemacht hätte, meinem Blicke auszuweichen, die Augen niederzuschlagen. Auf einmal sah er mit den leuchtenden Augen mich starr an. Der Wahnsinn kehrte wohl mehr und mehr in ihn zurück. Der mißlungene Versuch war wohl die letzte Anstrengung des noch klaren Geistes gewesen. Er antwortete mir nicht.

„Erzählt man,“ fragte ich weiter, „nicht auch in dieser Gegend von ähnlichen Beispielen?“

„Gewiß weiß man davon,“ rief er wieder lebhaft.

„Und Sie kennen sie?“

„Wie werde ich –?“

Hatte er sagen wollen: „Wie werde ich nicht?“

Die Frau Langlet war, einer Furie ähnlich, aber einer Furie, die in der Todesangst ist, von dem Bette her vorgesprungen. Ein wüthender Blitz ihrer funkelnden Augen traf den Kranken. Das Wort, das er aussprechen wollte, starb ihm auf den Lippen. Sein Blick wurde ängstlich. Sein Kopf fiel in das Kissen zurück.

Das Weib mußte eine ungeheure Gewalt über den Mann haben; ihr drohender Blick hatte ihm sogar das entflohene Bewußtsein zurückgeben können. Es war jetzt Zeit, sie zu entfernen.

„Madame,“ sagte ich zu ihr, „hätten Sie die Güte, uns zu verlassen?“

Sie schien vorbereitet auf die Aufforderung zu sein. Sie hatte keine Lust, ihr Folge zu geben.

„Mein Platz ist hier,“ sagte sie, „bei dem Kranken. Er bedarf meiner Hülfe.“ Sie sprach schnell, mit der Stimme der unterdrückten Wuth. Sie wendete sich zugleich rasch an den Kranken:

„Nicht wahr, Vetter, ich soll hier bleiben? Sie wollen es?!“

„Ja, ja, ich will es.“

Ich stand auf. „Madame, hätten Sie die Güte, sich mit mir auf ein paar Augenblicke in ein Nebenzimmer zu begeben?“

Ich schritt auf die Thür des Zimmers zu, aus dem wir in das Krankenzimmer getreten waren. Ich öffnete sie. Mein ruhiges, entschiedenes Benehmen imponirte ihr. Sie ging mit mir in das Zimmer. Wie die Wuth noch immer in ihr kochte und selbst eine trotzdem sichtbare Angst nicht in ihr aufkommen ließ, sah man dem häßlichen, boshaften Gesichte deutlich genug an.

„Was wollen Sie von mir?“ begann sie von selbst.

„Ihnen mit wenigen Worten erklären, Madame, wozu ich das Recht und den festen Willen habe.“

„Nun?“

„Sie kehren nicht in das Krankenzimmer zurück.“

„Der Kranke bedarf meiner Hülfe.“

„Wenn er Ihrer bedarf, werde ich Sie früh genug rufen.“

„Ich weiche nicht von ihm; ich will nicht.“

„So werden Sie mich zwingen –“

„In Gegenwart des Sterbenden gegen eine schwache Frau Gewalt zu gebrauchen?“

„Das nicht; aber ich werde zum Protokoll vermerken, wie Sie einen drohenden Einfluß auf den Testator ausgeübt hätten, der seine freie Willensbestimmung hinderte, wie Sie ungeachtet meiner wiederholten Aufforderung ihn nicht hätten verlassen wollen, wie daher das so entstandene Testament nicht als ein freies, sondern nach meiner innersten Ueberzeugung nur als ein erzwungenes, gesetzlich nichtiges zu betrachten sei. Sie haben jetzt die Wahl, Madame.“

Sie ging heftig im Zimmer auf und ab. Sie sann nach.

„Ich kann hier in diesem Zimmer bleiben?“ blieb sie vor mir stehen.

„Nein, auch das nicht.“

„Warum nicht?“ stampfte sie wüthend mit dem Fuße.

„Sie würden hier horchen und jeden Augenblick die Verhandlung wieder stören können. Sie entfernen sich ganz aus der Nähe des Krankenzimmers.“

„Aber ich werde ja wie eine Diebin, wie eine Räuberin behandelt. Hier, gleichsam in meinem eigenen Hause.“

„Madame, darf ich bitten, sich kurz und rasch zu entschließen?“

„Gut, ich gehe.“

„Noch ein Wort, Madame. Jeden Versuch, in das Krankenzimmer wieder einzudringen, würde ich als einen Zwang gegen den freien Willen des Kranken zum Protokoll verzeichnen.“

Sie verließ wüthend das Zimmer.

Ich kehrte zu dem Kranken zurück. Er war noch unter dem Einflusse der Frau und erhob den Kopf, als ich eintrat. Er war unruhig, als er mich allein zurückkommen sah. Dann aber kam es mir doch vor, als wenn er sich auf einmal leichter fühle; sein Blick schien lebhafter zu werden, ohne das unruhige Flackern und Leuchten zu zeigen. Wenn ich zurückdachte, wie er, nach meiner Meinung nur unter dem Zwange der Frau, sich dazu verstanden hatte, jene Bedingung für seinen Sohn auszusprechen, so erschien sein erleichterter Zustand mir erklärlich genug. Indeß lag mir für den Augenblick nur daran, der neuen Spur in ein tiefes Dunkel, die ich zuletzt aufgefunden zu haben glaubte, weiter nachzuforschen. Ich mußte vorsichtig verfahren. Er hatte dem Anschein nach sein volles Bewußtsein zurückerhalten.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Besuch in Bremerhaven und in der Wesermündung.
Machtlos zur See. – Die Flotte der deutschen Hansa und die von 1848. – Bundescontingent von Bremen, Hamburg und Lübeck. – Bremerhaven, seine Anlage und sein rasches Wachsen. – Die Schleußen. – Das Auswanderungshaus und seine Einrichtung. – Ebbe und Fluth. – Gefährlichkeit der Nordsee. – Wegweiser zur Auffindung des Fahrwassers. – Leuchtfeuer und Leuchtthurm.

„Machtlos zur See!“ Dies Wort muß der Deutsche im Auslande häufig hören, ohne es mit Grund widerlegen zu können. Der Eingeborne des Binnenlandes, den seine Verhältnisse nicht aus den gewohnten Lebenskreisen hinaustreiben in die Ferne, fühlt selten ganz, welch schwerer Vorwurf in diesem Worte verborgen liegt. Eine Nation von mehr als vierzig Millionen Seelen, die ein Recht hat, sich den gebietenden und herrschenden Völkern Europa’s beizuzählen, die in allen wichtigen politischen Fragen ihre Entscheidung abgibt, die sich rühmen darf, eben so reich zu sein an großen historischen Erinnerungen, als sie sich neben andern Nationen auszeichnet durch hervorragende Bildung, durch bewundernswürdige Leistungen in Literatur, Kunst und Erfindungen aller Art, eine so in jeder Hinsicht große Nation muß es sich geduldig gefallen lassen, daß man sie halb spöttisch, halb schadenfroh „machtlos zur See“ schilt!

Es gab eine Zeit, wo dies anders war, obwohl diese Zeit glorreichen Andenkens weit zurückliegt in der Geschichte und in eine Epoche deutscher Vergangenheit fällt, von der sonst nicht gerade viel Lobenswerthes zu erzählen ist, wenn wir das Ganze des Reiches in’s Auge fassen, das sich damals stolz noch das heilige deutsche römische Reich nannte. In jenen Tagen trüber Wirrniß, politischen Haders und nationaler Zersplitterung gelang es der Thatkraft strebenden Bürgerthums, durch energisches Auftreten und gemeinsames

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_228.jpg&oldid=- (Version vom 17.4.2023)