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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

„Aber was für Leute wohnen denn in dem Hause?“ fragte der Secretair noch.

„Zuerst seine Alte.“

„Seine Alte? Wer ist die?“

„Na, Sie werden sie schon kennen lernen. Sie commandirt Haus.“

„Dann?“

„Dann eine Jüngere.“

„Und wer ist die?“

„Man spricht Allerlei davon, und darum sage ich lieber nichts. Ein Wirth muß sich in Acht nehmen.“

„Hat der Alte nicht einen Sohn?“

„Ja, der arme Mensch ist auch noch im Hause. Und das werden sie wohl Alle sein. Denn die Domestiken müssen in einem Nebenhause wohnen, und kommen in das Haupthaus nur, wenn die Alte sie ruft, und die läßt sie dann nicht aus den Augen. Es mag freilich mitunter in dem Hause curios genug hergehen, und Manches vorfallen, was nicht Jedermann hören und sehen darf. So zum Beispiel – Aber ein Wirth muß schweigen können.“

„So zum Beispiel, Herr Wirth?“

„Ich habe nichts gesagt, Herr Secretair.“ Er sagte in der That nichts mehr.

Ich brach mit dem Secretair nach dem Hause des Herrn Lohmann auf. Es war nach sieben Uhr Abends. Der Abend war völlig dunkel. Ein Knecht des Wirths mit einer Laterne führte uns hin. Als wir die letzten Häuser des Dorfes hinter uns hatten, kamen wir zuerst an einen weiten Platz, der nach mehreren Seiten von Gebäuden eingefaßt schien. In der Dunkelheit konnte man es nicht näher unterscheiden.

„Der alte Klosterplatz,“ sagte der Knecht.

Wir betraten ihn. Ein schmaler Fußpfad führte uns zwischen Steingeröll, halb verdorrtem Grase, Disteln und ähnlichem Unkraut weiter. Man konnte jetzt jene Einfassung des Platzes genauer unterscheiden. Die Umrisse langer, hoher Gebäude zeichneten sich an dem dunklen Himmel ab. Sie selbst lagen völlig finster da. Auch auf dem ganzen weiten Platze herrschte tiefe Finsterniß. Kein Licht, keine Spur irgend eines Lebens war bemerkbar.

„Wo ist die Lohmann’sche Wohnung?“ fragte ich den Knecht.

„Sogleich, Herr!“

Er führte uns weiter. Der Pfad bog sich aus der Mitte des Platzes heraus, nach rechts. Wir kamen einem der langen, hohen Gebäude näher. Die Laterne warf ihr ungewisses Licht darauf. Wir gingen an einer kahlen, grauen, mitunter verfallenen Mauer. Hin und wieder waren Fensteröffnungen da, aber es waren keine Fenster, nicht einmal Fensterkreuze mehr darin.

„Das alte Kloster.“ sagte der Knecht.

Seine Worte hallten durch die Oeffnungen der Mauer, wie in einen weiten, leeren, wüsten Raum hinein.

Wir kamen an dem alten Kloster vorüber. Eine niedrige Mauer zog sich vor uns her. Der Knecht führte uns gerade auf sie zu. Sie hatte eine Oeffnung. Ehemals war eine Pforte hier gewesen. Sie mußte schon längst verschwunden sein. Nur noch der eine Pfosten stand da. Wo der zweite gestanden hatte, war sogar die Mauer eingefallen. Wir durchschritten die Oeffnung, und gelangten auf einen kleinen Platz. Der Schein der Laterne zeigte höheres, wilderes, üppigeres Unkraut; es stand in gewissen regelmäßigen Gruppen. Das waren alte Gartenbeete. Wir befanden uns nicht in einem alten, aber in einem ehemaligen, längst verwüsteten Garten. An seinem Ende, uns gegenüber, lag wieder ein Gebäude. Es war ungleich kleiner, als jenes alte Kloster, aber noch immer größer, als ein gewöhnliches bürgerliches Wohnhaus. Seine Umrisse schienen mir in der Dunkelheit ein herrschaftliches Landhaus im Style des siebzehnten Jahrhunderts anzuzeigen. Als wir näher kamen, zeigte das Licht der Laterne denselben grauen Mauerstein, mit dem das Kloster ausgeführt war, und auch hier waren die Mauern vielfach verfallen und beschädigt. Das Haus lag so dunkel und so still da, wie vorher das alte Kloster. Seine Fensteröffnungen waren von außen mit schweren Läden verschlossen, so dicht, daß keine Ritze die Spur eines Lichtes zeigte, wenn inwendig ein Licht brannte.

„Das Haus des Herrn Lohmann,“ sagte der Knecht.

„Die ehemalige Priorei des Klosters,“ setzte der Secretair hinzu.

Wir stiegen eine steinerne Treppe von fünf oder sechs Stufen hinauf. Sie war alt, die Steine waren schadhaft, lagen lose, ein Geländer war vielleicht einmal da gewesen. Wir standen vor einer Thür von schwerem, dunklem Eichenholz. In ihrer Mitte war ein verrosteter Klopfer.

„Klopfen Sie da nur an,“ sagte der Knecht, und er kehrte eilig mit seiner Laterne zurück, als wenn es anfange, ihm zu grauen.

Wir standen an dem Hause des Verrückten. Unser erstes Gefühl, wenn wir einem Menschen begegnen, dessen Geist ewige Nacht umfängt, ist Mitleiden; wir können uns aber auch eines gewissen Grauens nicht erwehren, vielleicht noch von den Kinderjahren her. Ich sollte in das Haus des Verrückten eintreten. Seit achtzehn Jahren hatte kein fremdes Auge den Mann gesehen; seit eben so langer Zeit hatte kein fremder Fuß das Haus betreten. Es lag so dunkel, so unheimlich vor mir, in der Abgeschiedenheit alter, verfallener, wüster Klostermauern, selbst alt, verfallen, wüst. Hier hausete der Unglückliche, in der Nacht des Geistes, in jener sonderbaren Umgebung, in der Nähe eines schweren, blutigen Verbrechens. War nicht auch von Verbrechen die Rede gewesen?

Was sollte ich in dem Hause finden? Aber was wußte ich denn von einem Verbrechen? War der alte Mann nur verrückt, geistesschwach? Dennoch, was sollte ich finden? –

Ich erhob den verrosteten Thürklopfer und klopfte. Der Schlag hallte dumpf wieder, wie durch das ganze Haus. Aber es regte sich nichts drinnen.

„Herr Assessor,“ sagte der Secretair neben mir.

„Sie sind neugierig, Herr Secretair!“

„Ach, ich weiß nicht – ich – Es kann Einem fast schauerlich hier werden.“

In dem Hause regte sich etwas. Es schienen leise und doch schwerfällige, langsame Schritte zu sein. Ein niedriges Fenster über der Thür wurde von einem matten Lichtstrahl erhellt. Die Schritte naheten sich. In dem Schlosse der Thür wurde ein Schlüssel gedreht. Dann wurde ein Riegel zurückgeschoben; darauf wurde an der Thür gezogen, um sie vollends zu öffnen. Alles geschah langsam, leise, wie um so wenig wie möglich Geräusch zu machen, aber auch, wie ich meinte, mit einer gewissen Unlust, Bequemlichkeit, Trägheit.

Wer mag da öffnen? Welche Figur mag gleich vor uns stehen?

Selbst der Secretair sagte wieder: „Da bin ich doch neugierig.“

Die Thür ging auf. Ein Frauenzimmer, mit einer Laterne in der Hand, stand unmittelbar an der geöffneten Thür vor uns. Sie trug bürgerliche Kleidung, etwas nachlässig. Sie war noch jung; sie konnte vier- bis fünfundzwanzig Jahre zählen; ihre Gestalt war schlank. Ihre Gesichtszüge waren nicht häßlich; sie zeigten sogar eine gewisse Regelmäßigkeit, aber sie waren von einer gelblichen Leichenfarbe bedeckt, und der Farbe entsprach der Ausdruck des Gesichts. Man konnte meinen, eine Todtenmaske zu sehen. In dem ganzen Gesichte bewegte sich nichts, es war todt und starr. Die Augen waren wie von grauem Glase. Von Geist war in dem Allem keine Spur zu sehen. So stand sie vor uns. Daß die Figur Leben hatte, zeigte eine Bewegung ihres Armes, womit sie die Laterne höher hielt, um uns besser sehen zu können, und ein Blick stumpfer geistloser Neugierde, mit dem sie uns betrachtete. Sie machte einen unheimlichen Eindruck. Aber ein anderer, widerwärtigerer Eindruck verdrängte ihn.

Wir befanden uns an einer kleinen Halle. Im Hintergründe derselben, uns gerade gegenüber, stand eine zweite weibliche Figur, mit einer Lampe in der Hand. Die Lampe beleuchtete ihr Gesicht, man konnte es voll sehen. Man glaubte kein häßlicheres Gesicht eines alten, bösen Weibes sehen zu können. Eine alte, schwarze Haube aus dem vorigen Jahrhundert umgab dieses häßliche, boshafte Gesicht. Ein weites Kleid von großgeblumtem Kattun umhüllte eine alte, magere Figur. Daß Haube und Kleid nicht eben sehr rein waren, ich konnte es in der Entfernung nicht sehen, aber ich hätte darauf geschworen, daß sie es nicht waren.

„Herrscht in diesem Hause der Blödsinn oder der Satan?“ mußte ich mich unwillkürlich fragen.

Den Secretair sah ich sich unwillkürlich schütteln.

Die Alte hatte nur sehen wollen, wer Einlaß in das Haus begehre. Sie warf noch einen flüchtigen Blick auf uns, dann verschwand sie durch eine Seitenthür. Wir waren mit der Jüngeren allein.

„Wir sind zur Aufnahme eines Testamentes hierher gekommen,“ sagte ich zu ihr.

Sie nickte mit dem Kopfe. „Ich weiß es, kommen Sie nur herein.“ Es war eine träge, schläfrige, geistlose Stimme, mit der sie das sprach.

Wir traten in die Halle. Aber sie führte uns nicht weiter.

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