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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

in dem Dorfe Tiefendorf ein gerichtliches Testament aufzunehmen. Ich machte mich mit dem mir als Protokollführer beigegebenen Secretair des Gerichts in einem Wagen sofort auf den Weg. Der Secretair Hommel war ein schon etwas ältliches, kleines, eben so neugieriges, als gern plauderndes Männchen.

Wir hatten kaum die Hochalpen des entsetzlichen Straßenpflasters des kleinen Städtchens, die unseren Wagen und uns in ihm auf- und niederwarfen, daß uns Hören und Sehen verging, hinter uns, als der kleine Secretair eine Unterredung begann, die mich doch bald mehr, als die gewöhnliche Wagenunterhaltung eines neugierigen, plauderhaften Männchens in Anspruch nehmen, die mich sogar spannen sollte.

„Ich bin heute sehr neugierig, Herr Assessor.“

„So, Herr Secretair!“

„Ich bin überhaupt sehr neugierig, wie unser heutiges Geschäft ablaufen wird.“

„Wieso, Herr Secretair?“

„Es wird wohl nicht viel daraus werden. Aber was geht es uns an?“

„Dürfte ich bitten, daß Sie sich deutlicher aussprächen?“

Er rieb sich vergnügt die Hände.

„Ah, ah, Herr Assessor. Ein Verrückter kann kein Testament machen. Aber, wie gesagt, was geht das uns an? Wir reisen hin, bemerken zu Protokoll, daß wir den Testator in keinem dispositionsfähigen Zustande angetroffen hätten, nehmen also ein Testament nicht auf, und haben unsere Diäten und Reisekosten dennoch verdient, und das ist die Hauptsache.“

Es war das so und es ist das auch wohl noch so eine gewöhnliche Subalternenlogik.

„,Wir irren uns doch nicht in der Person, Herr Secretair?“ sagte ich. „Wir sollen das Testament eines Herrn Lohmann in Tiefendorf aufnehmen.“

„Ganz recht, verehrter Herr Assessor. Der Mann war in der französischen Zeit Friedensrichter in Tiefendorf.“

„Und der ist verrückt?“

„Seit Jahren. Das weiß alle Welt.“

„Aber, Herr Secretair, dann kann er kein Testament machen.“

„Ein Verrückter kann kein Testament machen; das Gesetz verbietet es. Ein weises Gesetz, Herr Assessor.“

„Und Sie wissen gewiß, daß der Mann nicht seine Vernunft hat?“

Der kleine Mann sah mich etwas ängstlich an. Er mochte fürchten, ich könne sofort den Wagen umkehren lassen. Dann hätte er doch seine Diäten und Reisekosten nicht verdient.

„Die Leute sagen es wenigstens, Herr Assessor, und dann –“

„Und dann?“

„Ein Verrückter kann ja auch helle Zwischenräume haben. Zumal in der Nähe des Todes ist es eine bekannte Thatsache. Und dann – und dann –“

„Sie haben noch etwas, Herr Secretair?“

Sein Gesicht leuchtete vor Vergnügen.

„Der Herr Assessor werden nur um so mehr Veranlassung haben, durch sorgfältige Fragen festzustellen zu suchen, ob der Testator auch im vollen Besitze seiner Geisteskraft ist.“

„Das Gesetz schreibt das ohnehin vor.“

„Ich meine, durch Fragen so nach allen Seiten hin, nach seinem Leben, seiner Familie, seinem Hauswesen. Ah ha, dann muß er herauskommen, mit manchen Dingen. Sie lächeln, Herr Assessor? Ich versichere Sie, ich sage das nicht aus Neugierde; aber ich bin ein alter Praktikus, der schon seine zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre dient, und der Herr Assessor – nehmen Sie es mir nicht übel – Sie sind zwar ein gelehrter Herr, der seine Sachen gelernt hat, und werden mit der Zeit auch ein tüchtiger Arbeiter werden, aber sie sind noch nicht einmal fünfundzwanzig Jahre alt, und die Erfahrung habe ich also voraus, und da weiß ich, daß man gerade durch solche Fragen nach den Familien-Verhältnissen und Schicksalen der Leute am allerersten und gründlichsten die Ueberzeugung gewinnt, ob ein Mensch seinen vollen Verstand hat oder ob er ihn nicht hat. Und nebenbei erfährt man auch immer etwas. Und bei diesem Friedensrichter Lohmann ist zudem alles so ganz besonders geheimnißvoll, und verrückt ist er nun einmal, ich lasse es mir nicht ausreden – wobei ich indessen nicht gesagt haben will, daß er keine hellen Augenblicke, auch Stunden haben könne, in denen der Mensch sein Testament machen kann. Aber ich frage Sie, geehrter Herr Assessor, warum verbirgt und verschließt der Mann sich und seine Angehörigen und sein Haus so? Und ihren Grund pflegt die Verrücktheit auch zu haben. So ein schweres Verbrechen zum Beispiel, ein Mord oder dergleichen. – Ah, ah, ich bin sehr neugierig. Lassen Sie ihn nur nicht los, Herr Assessor.“

Der kleine, neugierige und plauderhafte Secretair sah mich schon im vollen Inquiriren. Seine Augen leuchteten, als wenn eine ganze Reihe der fürchterlichsten Mordthaten sich vor ihm aufrolle, und seine Diäten und Reisekosten waren ihm auch sicher.

„Ja, ja,“ fuhr er nach einer Pause fort, „ich bin zwar, obwohl ich schon achtzehn Jahre hier bei dem Gericht stehe – ich kam gleich bei seiner Einrichtung hierher, von jenseits der Elbe, ich war Lieutenant in dem kurmärkischen Landwehrregimente gewesen – ja, Herr Assessor sehen Sie mich nur darauf an, Lieutenant und kein zwölf Jahre gedienter Unterofficier, wie man sie jetzt überall herumlaufen sieht. Es war im Jahr 1815, gleich nach den Feldzügen. Und seitdem bin ich immer hier gewesen, und doch bin ich nach dem Tiefendorf in der ganzen Zeit höchstens fünf oder sechs Mal hingekommen. Das hat seinen besonderen Grund, Herr Assessor– der Pater Theodorus – ich erzähle Ihnen nachher von ihm, das heißt, wenn es Sie interessirt. Doch warum sollte es das nicht? Denn Sie sind erst seit wenigen Monaten hier, und es ist Ihnen noch Alles fremd, und ich behaupte immer, ein Beamter, besonders der Richter, muß Land und Leute kennen, wenn er in seinem Amte soll Gutes wirken können. Also von dem Pater Theodorus nachher. Jetzt will ich Ihnen erzählen, wie ich jedes Mal, wenn ich in Tiefendorf war, nicht ohne einen inneren Schauder an dem Hause des vormaligen Friedensrichters Lohmann vorbeikommen konnte, so unheimlich und still lag es da, die Thüren immer fest verschlossen, vor allen Fenstern dicke Läden, im Hause und in der Nähe desselben keine menschliche Figur zu sehen und keine menschliche Stimme zu hören. Und in dem Haus wohnt er nun schon seit beinahe zwanzig Jahren, und kein Mensch hat ihn seitdem gesehen, und gehört hat man nichts von ihm, als daß er verrückt ist. Und mit einer alten Person wohnt er dort, die ein wahrer Teufel, ein wahrer Drache ist, und Gott weiß, mit wem er sonst noch hauset. Denn wie man nie Jemanden aus dem Haus kommen sieht, so hat auch noch nie ein anderer Mensch seinen Fuß hineinsetzen dürfen. – Ah, ah, wir werden heute hineinkommen. Ich bin sehr, sehr neugierig. – Und ich sage noch einmal, die Verrücktheit will ihren Grund haben. Und die Leute sprechen Allerlei. Und in der Franzosenzeit war er da, und auch noch in der Kriegszeit, die darauf folgte. Und eine wilde, gebirgige, von Gott und der Welt abgelegene Gegend ist es. In der Mark hat man keine Ahnung von solchen Bergen. Und dann nehmen Sie folgendes, Herr Assessor:

„Im Jahre 1808 oder 1809 war dieser Lohmann als armer Beamter nach Tiefendorf gekommen, ich glaube, aus dem Elsaß. Er hatte als Friedensrichter an Gehalt und Bureaukosten Alles in Allem des Jahres 1800 Franken, davon kann man keine Reichthümer sammeln; und doch auf einmal, es war im Jahre 1815, kaufte er von der Regierung das ganze Benedictinerkloster in Tiefendorf – die Franzosen hatten es schon ausgehoben – ich erzähle es Ihnen nachher – mit Gebäuden, Aeckern und Waldungen, und er bezahlte alles baar und hatte außerdem noch Geld in Hülle und Fülle. Und nun frage ich Sie, hochgeehrter Herr Assessor, woher hatte der Mann das Geld? Er habe eine große Erbschaft in seiner Heimath gemacht, hieß es; er selbst hatte es unter den Leuten ausgestreut, oder vielmehr sein alter Drache. Aber solche plötzliche große Erbschaften aus der Fremde – man kennt sie. Und ein paar Monate nachher wurde er auf einmal verrückt. Er war wenige Tage vorher in die schöne Priorei eingezogen, die zu dem angekauften Kloster gehört; sie ist wie ein Schloß. Seitdem hat ihn kein Mensch wieder gesehen. Warum muß er sogleich verrückt werden? Und warum mußte er, oder vielmehr der alte Drache Haus und Familie vor aller Welt absperren und in Geheimniß und Dunkel einhüllen? – Sehen Sie, hochgeehrter Herr Assessor, das Alles muß heute noch heraus. Ah, ah, ich bin sehr – Und dann noch Eins, Herr Assessor. Er hat einen Sohn, nur ein Kind. Er ist noch jung, erst vier- oder fünfundzwanzig Jahre alt. Verrückt ist er zwar noch nicht, aber melancholisch, tiefsinnig, menschenscheu ist er schon und die Anlage dazu hat er immer gehabt. Als er vierzehn Jahre alt war, hatten sie ihn auf ein Gymnasium geschickt; aber sie mußten ihn schon nach wenigen Monaten zurückkommen lassen, und seitdem ist er nicht wieder

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