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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Berliner Bilder.
Von E. Kossak.
2. Am Kreuzwege.

Nach dem Glauben des Mittelalters eigneten sich die Kreuzwege ganz besonders zur Vollbringung aller Werke, welche über die gewöhnliche Ordnung der Welt hinausgehen. Das gegenwärtige nüchterne Zeitalter legt zwar auch noch dem Kreuzwege eine gewisse Bedeutung bei, allein nur insofern, als von demselben aus am besten diejenigen Werke beobachtet werden können, welche wider die gewöhnliche Ordnung der Welt laufen.

Als man Hexen und Zauberer folterte und verbrannte, Geister citirte, Amulete trug, Krankheiten besprach und Freikugeln goß, hielten sich an den Kreuzwegen alle überirdischer Künste verdächtigen Personen auf und brachten diese Stellen in einen so bösen Leumund, daß Jahrhunderte dazu gehört haben, ihren gekränkten Ruf einigermaßen zu reinigen und wieder herzustellen. Heute haben an den Kreuzwegen lediglich diejenigen Personen festen Fuß gefaßt, welche mit nichts weniger als überirdischen Künsten nur den gemeinen Gang der Dinge ununterbrochen erhalten und alle unvorhergesehenen und muthwilligen Störungen desselben beseitigen wollen.

Wo in Berlin sich zwei Hauptstraßen in einem rechten, stumpfen oder spitzen Winkel durchschneiden, sieht man an einer Ecke einen ernsthaften Beamten mit langsamen Schritten auf- und abgehen oder mit achtsamen Blicken die gesammte Umgebung, die mit Pferden, Hunden oder Menschen bespannten Wagen, die vorübereilenden Personen, die spielenden Kinder, die Thüren der Häuser und offenen Geschäfte beobachten. Der Beamte trägt einen blauen, knapp militärisch anschließenden Waffenrock, darunter einen kurzen Infanteriesäbel, und bei schlechtem Wetter einen minder kriegerisch aussehenden Paletot; sein Haupt ist gleich dem Kopfe, welcher aus Macbeth’s Hexenkessel jenen magischen Polizeibericht abstattet, mit einem Helme bedeckt, dessen neusilberner Beschlag herrlich im Sonnenscheine leuchtet und selbst das Dunkel eines trüben Regentages erheitert. Der geschilderte Beamte gehört zu den Schutzmännern des Polizeireviers und hat dafür zu sorgen, daß alle Angehörigen des modernen Staates sorgfältig die zahlreichen Regeln befolgen, ohne deren Beobachtung jeder Mensch sich der Gefahr aussetzt, unter die unregelmäßigen Verba versetzt und demgemäß in einer besonderen Abtheilung der gesellschaftlichen Grammatik, Stadtvogtei genannt, conjugirt zu werden.

Die Pflicht des auf dem Polizeiposten stehenden Schutzmannes ist eine sehr ernste und verlangt eine ganz außerordentliche Aufmerksamkeit. Deshalb wird ihm von seinen Befehlshabern auch kein Schilderhaus gewährt, dessen sich sonst jeder Musketier oder Füselier erfreut; er ist angewiesen, jedem Wetter Trotz zu bieten und durch keine Strapazen in der Ausübung seines Amtes sich irre machen zu lassen. Nicht einmal für ein wasserdichtes Kleidungsstück als leibliches portatives Schilderhaus, wie es der englische Polizeimann in dem schützenden Wachstuchkragen besitzt, ist gesorgt; der Berliner Schutzmann am Kreuzwege erfreut sich bei Sturm und Regen, Hagel und Schneegestöber keines besseren Schutzes, als der erste beste Baum an der Landstraße unter ähnlichen Umständen.

Da der heutige Bürger, mag er immerhin die Jahre und die Weisheit Nestor’s erreichen, niemals für mündig erklärt werden kann, sondern stets einer gewissen Anleitung, Ueberwachung und Zurechtweisung bedarf, weil bekanntlich die Vorschriften der ihn leitenden Behörden zu zahlreich und eigenthümlich sind, um in ihrem Umfange und in ihrer Tiefe von dem gewöhnlichen Menschenverstande begriffen zu werden, so ist ihm der Schutzmann als Vormund gesetzt worden. Aber wie es in dem Charakter dieses schönen, herzansprechenden Amtes liegt, soll der Schutzmann ihm auch als rächender Freund, als freundlicher Gehülfe und thatkräftiger Beistand dienen, falls der unmündige Bürger mit eigenen Mitteln und Kräften nicht auszukommen vermag. Wenn die Magd des Bürgers irgend eine Ungehörigkeit sich hat zu Schulden kommen lassen, wenn ein unvorhergesehener Eindringling in seine Wohnung nicht freiwillig das Feld räumen will, oder ein Bekenner der Lehre des weisen Proudhon einen Angriff auf sein Eigenthum macht, darf er unverzüglich den Schutzmann als nächsten Vertreter der Staatsgewalt herbeirufen und seine Einmischung in Anspruch nehmen. Der Fremde erkundigt sich bei dem Schutzmanne nach der Wohnung der Leute, denen er einen Besuch abstatten will, nach den Bureaux der Stadtpost und andern amtlichen Gebäuden, der Einheimische fragt ihn in kritischen Erkrankungsfällen nach dem nächsten Arzte oder, wenn es die Beförderung eines sehr eiligen kleinen Ankömmlings in das Erdenleben gilt, nach der nächsten Hebamme. Der Schutzmann weiß das Alles und theilt es mit der größten Zuvorkommenheit mit. Als guter Mensch macht es ihm Freude, seinen Mitbürgern verbindlich sein zu können und nicht immer die scharfen Stacheln seines Polizeicharakters hervorkehren zu müssen.

Am liebenswürdigsten tritt er als Vormund kleiner verlorengegangener Kinder auf. So eben ist ein Exemplar von etwa drittehalb Jahren gefunden worden. Da steht es, die mit Pelz besetzte ruppige Kappe in entsetzlicher Todesangst tief in die Augen gedrückt, in einem abgeschabten blauen Tuchmäntelchen, unter dem aus den Höschen hinten ein Fragment des Hemdes schüchtern den Tag begrüßt; das Kind reibt mit blaugefrorenen Händchen die weinenden Augen. Eine Haufe Menschen drängt sich um das arme Knäblein und macht es mit den albernsten Fragen vollständig verwirrt. Nur ein intelligenter Schusterlehrling, der eben commandirt war, ein Paar versohlte Stiefeln auszutragen und eine Obertasse mit Syrup einzuholen, hat sofort Rath in der schwierigen Lage der christlichen Bevölkerung gewußt und auf eigene Verantwortung den Schutzmann benachrichtigt.

Der polizeiliche Soldat nähert sich bedachtsam der Gruppe, mehrere alte Weiber mit Körben voll Brod und Kartoffeln laufen ihm voraus, einige alte Junggesellen folgen ihm, begierig die abschreckenden Folgen des ehelichen Lebens in diesem flagranten Unglücksfalle kennen zu lernen. Er zertheilt den Haufen und stellt sich vor den unglücklichen Kleinen.

„Wie heißt Du denn, Kleiner?“

Wenn der Kleine seinen Namen wirklich wüßte, vermöchte er ihn doch unter dem schrecklichen Eindrucke der über ihm hangenden Obdachlosigkeit nicht zu nennen; er schweigt und heult gottesjämmerlich weiter.

„Wo wohnst Du, Kleiner?“

Natürlich kann der Kleine eine so schwierige Frage noch weit weniger beantworten. Er steht ohne alle Legitimation da.

„Nun, komme nur mit mir, Deine Mutter wird Dich schon von uns abholen. Weine nicht, weine nicht, liebes Kind; es hat nichts zu sagen.“

Mit diesen Worten ergreift der Schutzmann den Verirrten bei der Hand und schlägt den Weg nach dem Bureau des Reviercommissariats ein. Die versammelte Menge folgt schweigend und sichtlich befriedigt durch den Ausgang des Abenteuers, der Kleine aber läßt sich vertrauensvoll abführen, er stellt jetzt ein auf Zeit adoptirtes Polizeikind vor und wird als ein lebendiger Gegenstand der Registratur, als ein zweibeiniges Actenstück – etwas Werthvolleres kennt man ja in Deutschland kaum – betrachtet und vorläufig aufbewahrt. Inzwischen findet sich auch die verzweifelnde Mutter mit gesträubten Haaren ein und erhält ihren verlaufenen Sprößling mit der Ermahnung zurück, ihm durchaus keine körperliche Züchtigung angedeihen zu lassen, auf welche der erfahrene Schutzmann aus ihrem offensiven Mienenspiele schließen mag.

Nicht immer ist der Wächter am Kreuzwege solch’ ein idealer Schutzengel in Uniform; weit häufiger gleicht er einem strafenden und rächenden Genius.

Da sich die Auserwählten des Volkes, die Abgeordneten und Landboten im Parlamente, nicht einmal im geschlossenen Saale, in Gegenwart der Minister, eines hohen Adels und verehrungswürdigen Publicums zu vertragen pflegen, sondern jede Gelegenheit bei den Haaren ergreifen, einander unangenehme Dinge zu sagen, kann man es dem ungebildeten Volke auf der Straße wahrlich weit weniger verargen, wenn es mündlich, und nach Befinden der Umstände auch wohl handgreiflich, aneinander geräth. In solchen Fällen ist der Schutzmann von Amtswegen verpflichtet, die Wortwechsler oder Combattanten zur Ordnung zu rufen.

Das Pflaster ist aufgerissen und die Arbeiter bringen im Schweiße ihres Antlitzes die Straße wieder in Ordnung. Da erscheint ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_190.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2023)