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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Atiles Herz hatte nur für eine Liebe Raum. Sie liebte mich schwärmerisch, nächstdem meinen Bruder, dann folgte mein Vater und schließlich ihre Pflegerin. Mit dieser war sie so lange freundlich, bis mein Vater erschien; diesem schmeichelte sie, bis sie meinen Bruder sahe, und letzteren verließ sie, sobald ich mich ihr nahete. Es kam oft vor, daß sie denselben, welchen sie eben geliebkost hatte, plötzlich biß, weil sie den höher in ihrem Herzen Stehenden erblickte. Ich stand so hoch in ihrer Liebe, daß ich ihr immer gleich blieb. Selbst wenn ich sie züchtigte, zürnte sie mir nicht, wohl aber stets dem Nächsten, welchen sie sahe, weil sie glauben mochte, seinethalb die Schläge empfangen zu haben. Deshalb wurde sie auch nie durch Strafe gebessert, ich und sie waren beständig im Rechte; aber die andern Menschen erschienen ihr als die Sündigen, denen sie gelegentlich ihren Haß mit tüchtigen Bissen bethätigen mußte.




Vier Musikantengräber.
Erinnerungsblatt von August Silberstein.

Der Mensch holpert und stolpert heute so vielfach auf allen Lebenswegen, daß nach dem üblichen Sprichworte: „hier liegt ein Musikant begraben“, die ganze Welt oder Erdrinde mit Musikanten unterlegt sein müßte.

Sollte diese Unterlage neuerer Zeit mit Virtuosen ausgeführt worden sein, so wäre allerdings dem Schicksale und der Weltordnung das Aufbringen der nöthigen Virtuosenmenge nicht schwer geworden, und wir würden daraus mit Recht die verderbenbringende Gefahr der modernen Virtuosen nicht nur bei ihren Lebzeiten, sondern auch für nachfolgende Zeiten erkennen.

Will der Leser aber mit mir ohne Anstoß auf und an Musikantengräber treten, so will ich ihn auf eine Stelle führen, wo ein „Quartett“ in so unmittelbarer Nähe begraben liegt, und eine tiefe Harmonie ausgezeichneter Meister hergestellt ist, wie sonst nirgends.

Die geweihte Stätte gehört zu Wien, dem klingenden und singenden Wien, das, wenn es so viel Metall in den Säcken, als in den Kehlen, so viele Kunde in allen andern Arten, als in den Tonarten, so viel Klang in den eisernen, als in den Klavierkasten, so viele ausgezeichnete Köpfe innerhalb der „Stadtlinien“, als in den Notenlinien, so viele Schlüssel zu den Bank- und diplomatischen, als zu den Musiknoten hätte – wahrhaftig die beneidenswertheste Primstimme in dem Concerte der Völker führen würde.

Die Welt weiß es, Wien ist die erste Musikstadt Deutschlands, vielleicht des Erdenrundes; hier haben die bedeutendsten Musiker gelebt, begonnen und geendet, und wenn man eigentlich wissen will, wo sie begraben sind – dürfte man nur Umschau in den fast zahllosen Vereinen, Orchestern, Chören und Aufführungen halten.

Doch betrachten wir alle diese Scherzworte als in dem Häusergewirre Wiens gesprochen, aus dem wir allmählich zur geweihten Stätte, von der ich gesprochen, hinausgepilgert, und wir sind bereits in dem angrenzenden Orte Währing angelangt, wir stehen bereits vor einem schwarzen Kirchhofgitter, durch das die Grabmäler stumm und ernst, die Bäume und Blumen wie ein milder Trost grüßen – wir schreiten den etwas aufsteigenden letzten Weg links an der Mauer hinauf – der Kies knirscht unter unsern Füßen, gleichsam grollend ob der eindringenden Störung in das Reich der Todten – wir halten bangend an, wir stehen vor einem wildbewachsenen Grabhügel und einem flachen Gruftsteine daneben, die beiden ragenden Denkmäler zu Häupten besagen: „Hier ruhen die Gebeine von Seyfried und Clement!“ Und wenn wir den Blick um wenige Schritte vorwärts, rechts nach der Mauer wenden, winkt uns ein Baum, fesselt uns sicher ein Kranz – sie gehören zu den Gräbern Beethoven’s und Schubert’s, die nur durch ein einziges fremdes getrennt sind.

Welcher Klang, welche Fülle von Sang in diesen Worten! Wer denkt nicht an die Worte des „Wanderer“, der stets und stets die Welt umkreist, des „Wanderer“ von Schubert: „Ich wandle still, bin wenig froh!“ Wer denkt nicht bei dem wehenden Strauche mit pochendem Herzen an die zitternden Laute aus Schubert-Goethe’s „Erlkönig“: „Was birgst Du so bang’ Dein Gesicht?“ Wer will die Worte vergessen aus Beethoven’s „Fidelio“: „Ich habe Dich wieder!“ Soll ich die markerschütternden Klänge „Egmonts“, die süßen Lieder Klärchens heraufbeschwören – will nicht das ganze Reich der Töne, mit aller Lieblichkeit, mit aller Gewalt und Erschütterung, von dem einfachen Sang „Adelaidens“ bis zu den donnernden Chören der Völkerschlachten, den zerschmetternden eines jüngsten Gerichtes und den thränenheischenden eines „marche funèbre“ auf uns eindringen?

Und Seyfried und Clement? – Ihr greisen Häupter, die ihr die Catalani gehört und den Congreß nach Napoleons Verderben erlebt, erhebt euch mit freudeglänzenden Augen und jugendfrischem Erinnerungslächeln bei dem Gedanken an den deutschen Paganini, Clement, dem in seiner Klangesfülle kronentragende Häupter die Noten umgeblättert; – hier liegt er nun still und stumm – bis der Himmelsbogen auf diesem hohlen Erdkasten die nie gehörte Cantate und Auflösung aller Fugen streicht!

Den Namen Seyfried werden wohl nur ganz Musikunkundige und Literaturnovizen mit fragender Miene begleiten. Wollte ich ihnen den Mann näher bringen, müßte und könnte ich den ganzen Raum dieser Blätter mit der Aufzählung seiner Werke und seines Wirkens in der „Musikperiode“ füllen. Erstere allein bilden eine ganze Bibliothek. Möge man lachen oder weinen, Oper oder Posse, Kinderlied oder Grabgesang, Hymnen oder Requiem – Seyfried hat deren eine Menge geschrieben. „Der Löwenbrunnen“, „Zemire und Azor“, „Cyrus“, „Roderich und Kunigunde“, die stets beachtenswerthe Parodie, erinnern an seinen Namen. Es ist ein ergreifendes Memento des Schicksals, daß er wenige Schritte von dem Manne begraben liegt – Beethoven – dem er die Leichenmusik geschrieben, den er mit neuen Klagelauten der Phantasie zur letzten Stätte und gerade hierher geleitet. Seine eigene berühmte Grabmusik hat sich Seyfried später selbst geschrieben.

Nun wohl – ein solches Quartett, eine solche harmonirende, an Tönen überreiche und doch stille Gesellschaft findet sich in so engem Kreise doch nicht wieder beisammen!

Wenn das jüngste Gericht in die Posaune stößt – sollte man nicht etwa meinen, daß es von hier aus die Stimmung und Noten verlangt, oder etwa wegen falschen Blasens corrigirt werden wird? Wenn die Vögelein irgendwo auf nächtlichen Zauberbäumen und in geheimnißvollen Halmen ihre Melodien lernen, gewiß hier, und von hier aus fliegen sie und verbreiten herzerquickende Gesänge.

Mein treu begleitender Leser denkt gewiß bei diesen Worten vor Allen an Beethoven! Wir Deutsche dürfen ihn auch niemals vergessen, als einen deutschen Mann. Er ist dreifach theuer, als Meister, als Mann der Heimath und als – ein Unglücklicher!

Ueber seinem Grabe grünt das Andenken seiner Ehre und seines Wehes; jedes Blatt auf seinem Baume spricht rastlos sich regend davon. Er, der Meister der Töne, war taub – ihm, der das Reich des zaubervollsten Sanges und Klanges einer horchenden, entzückten Welt erschloß, ihm drang kein einziger Ton mehr in das lebend verschlossene Ohr! Er, der den umringenden Hunderten von Musikern Gesetze gab, schritt mitten unter ihnen und seinen Werken umher, und die klangvoll sich regenden Hände und Instrumente waren ihm gleich den Bewegungen eines stummen Ameisenhaufens – nicht mehr!

Beethoven – taub! Der Meister der Töne, der fast zauberisch über sie gebietet, keinen einzigen zu seiner Erquickung; – es ist der König, der im goldenen Palaste darbend vergeht – es ist der sterbende Moses, dem das gelobte Land offen – er darf seinen Fuß nicht darein setzen!

Der schmerzenreiche, siechende Beethoven war aber ein vollkräftiger Mann der Despotie gegenüber! Er, der von Napoleon im Anfange schwärmerisch den Schutz der Freiheit und des Glückes gehofft, faßte das ganze Reich seiner Empfindungen und die angestaunte Größe des Andern zu einer „Symphonie Napoleon“ zusammen, in der Absicht, sie dem Gewaltigen huldigend zu reichen; als er aber den „Empereur“ in voller Entfaltung kennen lernte, schleuderte er zornig die Symphonie zur Erde, zerriß und zerstampfte den Titel. – Würde und Lohn waren vergeudet; als „Symphonia eroica“ staunt die Welt das Werk an, und als der Held auf

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_187.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2023)