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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

„Wenn Ihr wolltet das Wägli nehmen, würde es rascher gehen, Herr Doctor,“ antwortete treuherzig ein blühendes Schweizermädchen von unten hinauf, „mein gut Mütterli hat den Augenschmerz doch so sturm und klagt so arg!“

„Gewiß, Babeli, ich komme sofort,“ versicherte der Arzt.

„Wollt also nicht lange mehr tubaken?“ fragte sie lächelnd und doch besorgt, „und wollt auch das Wägli nehmen?“

„Fahren werde ich nicht, aber reiten will ich, und das bald, Babeli,“ versprach Jener und blies die Tabakswolken in die Luft, während er mit Wohlgefallen das treue Mädchen betrachtete.

„Soll ich Euer Rößli satteln, Herr Doctor?“ fuhr Babeli drängend fort, „wenn nicht Mannenvolk im Haus ist, will ich’s thun; ich weiß, wie es Brauch ist bei den Rossen.“

„Siehst Du nun, daß ich sogleich kommen werde?“ entgegnete der Arzt, indem er den Pfeifenkopf ausklopfte und sich dann vom Fenster zurückzog.

Babeli nickte und lächelte ihm dankbar zu, eilte noch in die Apotheke und dann zur Stadt hinaus. Bald hatte sie Zürich hinter sich.

Reich sah es im Elternhause Pestalozzi’s nicht aus. Der Vater war Arzt, vorzüglich Augenarzt, und verdiente doch kaum, was er für die Familie brauchte. Aber in der Wohnstube sah es reinlich und blank aus. Der kleine Heinrich spielte mit seiner jüngeren Schwester zu den Füßen der hübschen, freundlichen Mutter. Zart sah er aus und schwächlich. Sein Bruder, der kräftiger war, hatte jetzt Medicin zu einem Kranken getragen. Dieser zählte einige Jahre mehr, als der kleine Heinrich, und der Letztere war jetzt fünf Jahre alt.

„Laß mich reiten, Väterli,“ sagte der Knabe mit fast kränklichem Tone, als der Arzt Pestalozzi ein Paar ziemlich unstattliche, eiserne Sporen anschnallte.

„Wenn ich wiederkomme, mein Bürschli,“ antwortete sanft der Vater, „jetzt muß ich schnell zu einer armen Frau, mein Heinrich.“

„Der thun die Aeugli weh?“ fragten die Kinder.

„Weh, sehr weh,“ entgegnete mitleidig die Mutter und strich den beiden Kindern mit liebender Hand über das Haar, indem sie die Arbeit bei Seite schob und nach der Thüre eilte.

„Mütterli, ich gehe mit in den Stall,“ sprach der kleine Heinrich und faßte die Hand der Mutter.

„Und ich trete an’s Fenster, wenn Väterli fortreitet,“ erklärte seine Schwester.

„Kannst Du mit den Kindern nicht in’s Freie?“ fragte der Mann seine Frau. „Doch ich sehe ja,“ setzte er sanft und bedauernd sogleich hinzu, „daß Du zu viel zu thun hast, und wie es daher auch heute nicht geht. Könnten wir nur ein Dienstmädchen halten!“

„Ach ja, das wäre wohl gut,“ versetzte lächelnd die Mutter, indem sie mit ihrem Manne und dem kleinen Heinrich die Treppe hinabging; „nicht für die Kinder möchte ich das Mädchen, denn die versorge ich am liebsten selbst, – aber zur Unterstützung und zum Rüsten in dem Hausgewese, da wäre uns ein Mädchen schier gut.“

„Es gibt auch solche, denen man getrost die Kinder anvertrauen kann,“ belehrte der Vater; „hätten wir z. B. die Babeli.“

„Ja, die Babeli, die Babeli!“ rief mit Wärme die Mutter. „Eine Babeli gibt’s doch nicht zum zweiten Male und die eine Babeli können wir ja doch nicht in Dienst bekommen.“

Unter diesem Gespräche waren sie in den Stall gelangt. Die Mutter half satteln und aufzäumen, und als der Rappe fertig stand und auch der Huf geschwärzt war, setzte der Vater den kleinen Heinrich auf das große schwarze Thier und führte es durch die Hausthür hinaus auf die Gasse. Dort hob er den Kleinen herab und schwang sich selbst in den Sattel. Im langsamen Schritte ritt er hinweg. Mutter und Kinder grüßten und winkten dem Reiter nach, als ginge er auf viele Wochen lang fort, und auch der Reiter schaute oft und grüßend rückwärts, Vor dem Thore endlich, als der Reiter ein kurzes Pfeiflein aus der Tasche gezogen und in Brand gesteckt hatte, nahm der Rappe einen schnelleren Schritt an.


Zwei Monate sind seitdem vergangen. Der Augenarzt Pestalozzi hat den Weg sehr oft in eins der einzeln stehenden Häuser gemacht, welche hinter dem Dorfe Höngg liegen, etwa eine gute Stunde von Zürich. Das Dorf breitet sich an den lieblichen, mit Weinbergen bepflanzten Abhängen hin, welche die reizenden Ufer des See’s begrenzen. Hier in dem friedlichen Dorfe Höngg lebt ein Großvater des kleinen Heinrich von mütterlicher Seite, und derselbe ist Ortspfarrer, ist geliebt als tüchtiger Hirt und Mensch. Wir können uns jetzt nicht bei ihm verweilen, sondern kehren zu seinem Schwiegersohne, dem Arzte, zurück.

Nicht bei dem gemüthlichen Pfarrer befindet sich dieser, sondern vor einem jener einzeln gelegenen Häuser. Und neben ihm steht die blühende Babeli und löst die Zügel des Pferdes, womit dasselbe an den Griff der Hausthüre angebunden war.

„Nun brauche ich nicht wiederzukommen, Alles gut nun, Babeli,“ sagte der Arzt Pestalozzi.

„Aber ich werde kommen, ich!“ antwortete freudig gerührt und mit leuchtendem Angesichte das Mädchen, „ich werde Euch, Herr Doctor, Euer Frauli und Euere Kinder besuchen jeden Sonntag und werde fragen, ob’s etwas zu schaffen gibt in Euerm Hausgewese. – Was Ihr auch sinnt und was Ihr auch denken möget,“ fuhr Babeli fort, als der Arzt schweigend und wie nachsinnend vor sich hinblickte, „glaubet nur nicht etwa, daß ich damit das Geld ersparen will. O, ich werd’ Euch Batzen, Kreuzer und Kronen bringen, die ich gesammelt hab’ und die oben liegen in der Truhe auf meinem Stübli! Saget nur, lieber Herr Doctor, was mein Mütterli schuldig ist. Aber kann man solche Gnad’ mit Kreuzern und Kronen bezahlen? Bei dem Herrgott muß man’s dadurch in’s Gleiche bringen, daß man nicht wüst lebt, sondern rechtschaffen, und den Menschen muß man Liebesdienst’ erweisen. Und das will ich, Herr Doctor, will Euch nicht nur bezahlen mit Geld, sondern auch mit Liebesdienst, will des Sonntags kommen zu jedem Geläuf’ und Werk für Euer Frauli und Euere Kinder. Habt Ihr doch meinem Mütterli das Augenlicht gerettet, Herr Doctor! Würde Mütterli doch blind sein, wenn Ihr nicht gekommen wäret einen Tag um den andern zwei Monate lang! Durch Euch hat der Herrgott geholfen! Wie sollt’ ich Euerm Hausgewese nicht Liebesdienst erweisen? – Ich will’s, ich will’s!“ setzte sie freudig und laut hinzu, „und ich weiß, daß Euerm Frauli gedient ist damit!“

Noch immer schwieg der Arzt Pestalozzi. Babeli ahnte nicht, wie wohlthuend ihn ihr Anerbieten bewegte.

„Und Kronen und Kreuzer bezahle ich Euch heute noch oder morgen.“ sprach Babeli weiter, „saget mir nur, was wir schuldig sind, Herr Doctor!“

Der Arzt spielte noch eine Weile sinnend mit dem Zügel seines Pferdes, und dann antwortete er halblaut:

„Deine Mutter ist mir nichts schuldig, Babeli, ich habe sie umsonst curirt. Aber Dich würden wir bezahlen, Dich, Babeli, – freilich nur mäßig –“

„Mich bezahlen?“ fiel Babeli ein, „Wäre es dann noch Liebesdienst, wenn ich Sonntags zu Euch käme? Und bin ich etwa in Höngg oder Zürich als geizig verbrüllt, daß Ihr so wüst Euch ausdrückt mit dem Bezahlen?“ fragte sie lächelnd. „Lieber Herr Doctor, ich bin froh, daß ich das Geld, welches ich verdient, niemals verleichtsinnigt hab’, aber geizig bin ich nicht. Also machet nur Rechnung, damit wir wissen, was wir schuldig.“

„Nichts schuldig, nichts,“ erklärte Pestalozzi wie schüchtern, „aber wenn wir so einen Dienstboten hätten, Babeli, - einen, wie Du bist, Babeli! wenn es ginge, daß Du zu uns zögest, – das würde gar gut sein für meine Frau und Kinder!“

Babeli griff nachdenkend in die Mähne des Pferdes. So stand sie eine Weile und schwieg, Pestalozzi fühlte sich verlegen, fast bereute er seine gesprochenen Worte.

Da aber erhob Babeli ihr schönes, schwarzhaariges Haupt. Wie Sonnenglanz strich ein dankvolles Lächeln über ihr blühendes, frisches Angesicht, und entschieden rief sie aus:

„Wer könnte darüber aufbegehren?! Mütterli wird nicht Gegenred’ haben und, Gotthard wird nicht sturm sein darüber! Wartet, Herr Doctor, ich will hinauf erst in’s Stübli!“

Mit diesen Worten eilte sie hinauf zur Mutter. Diese kam mit herab und erklärte, dankbar die Hand des Arztes fassend, ihre Einwilligung. Nach wenigen Minuten war Alles besprochen und abgemacht. Froh und heiter, wie er es seit lange nicht gewesen, wollte sich der Arzt auf den Rappen setzen.

„Noch nicht,“ bat Babeli, „denn es geht die Sach’ nicht allein über mich und Mütterli aus, auch, auch –“ setzte sie schüchtern hinzu, „auch Gotthard muß wissen davon.“

„Geh zu ihm,“ sprach die Mutter, „auch er wird nicht aufbegehrisch sein.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_178.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)