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verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

sie mit wahrhaft mütterlicher Sorgfalt die beiden Kinder ihres Hausgenossen, und hat ein scharfes Auge für die Aufsicht der Dienstboten.

Frau Olga ist aus den Reihen der Lebendigen gestrichen, ohne gestorben zu sein. Ihr Name wird nie genannt und ihre Kinder vermissen sie unter der gesteigerten Zärtlichkeit ihres Vaters nicht. Zu seiner unaussprechlichen Freude zeigt sich, trotz der aufmerksamsten Beobachtung, keine Spur der mütterlichen Begabung, weder die der Elsternatur, noch die des Salamanders. Er preist Gott dafür!




Hölderlin.

In dem reizenden Neckarthale, lieblich von Weinbergen umkränzt und von den fernen Höhen der „rauhen Alp“ wie von treuen Wächtern behütet, liegt das freundliche Tübingen, wo Uhland, der deutsche Liedersänger, an der Brücke in dem trauten Hause wohnt. In der Nähe erhebt sich der Oesterberg mit dem kleinen Weinbergshäuschen, worin Wieland seinen „Oberon“ gedichtet hat. Noch eine Reliquie birgt die Stadt in ihren Mauern, zu der wir jetzt unsere Schritte lenken.

Wir steigen eine schmale Treppe hinauf und gelangen in ein thurmähnliches Erkerzimmer mit der entzückendsten Aussicht auf Berg und Thal. Rings umher steht der einfachste Hausrath, ein hölzerner Tisch und zwei Sessel; in einem Winkel ein Clavier mit verstimmten und zerrissenen Saiten, ein treues Bild einer gestörten Menschenseele. Der Bewohner dieser fast ärmlichen Räume starrt uns mit scheuen und stumpfen Blicken an; aber die Gegenwart unseres Begleiters, eines wackeren Tischlermeisters, dem das Haus gehört, macht ihn freundlicher, so daß er uns nicht, wie es sonst seine Gewohnheit den Fremden gegenüber ist, mürrisch und aufgebracht den Rücken kehrt. Die hagere Gestalt richtet sich empor und antwortet auf unseren Gruß mit einer tiefen Verneigung, die voll Grazie wäre, wenn sie nicht etwas gezwungen Krampfhaftes verriethe. Das Profil des uns zugewandten Gesichtes zeigt eine hohe gedankenschwere Stirn, freundliche, wenn auch erloschene, aber nicht seelenlose, liebe Augen; über Wangen, Mund und Nase liegt ein eigenthümlich schmerzlich kranker Zug ausgebreitet, der mit einem plötzlichen convulsivischen Zucken abwechselt, von dem der ganze Körper erschüttert wird. Er trägt ein einfaches graues Wamms, in dessen Seitentaschen er seine Hände zu verbergen liebt. Die ganze Erscheinung trägt die Spuren einer früheren großen Schönheit und Anmuth an sich, die weder von den Jahren, noch vom Unglück gänzlich verwischt worden sind. Unwillkürlich müssen wir bei seinem Anblicke an eine mächtige vom Mond beglänzte Ruine denken und unsere Seele fühlt sich von Mitleid und tiefer Wehmuth ergriffen, ehe wir noch sein Schicksal kennen. Auf unsere freundliche Anrede erwidert er mit einem Schwall von unverständlichen Worten ohne jeden Sinn und Zusammenhang. Er nennt uns bald Ew. Majestät, bald Ew. Heiligkeit und überhäuft uns mit den verschiedensten Titeln. Länger können wir nicht zweifeln, daß wir es mit einem Wahnsinnigen zu thun haben. Da plötzlich fällt sein Auge auf ein Buch, welches aufgeschlagen auf dem Tische liegt; er greift danach und liest anfänglich mit tonloser Stimme, dann immer lebendiger und erschütternder daraus folgende Stelle vor:

„Ruhe der Kindheit! himmlische Ruhe! wie oft stehe ich stille vor Dir in liebender Betrachtung und möchte Dich denken! Aber wir haben ja nur Begriff von dem, was einmal schlecht gewesen und wieder gut gemacht ist; von Kindheit, Unschuld haben wir keine Begriffe.

„Da ich noch ein stilles Kind war und von dem Allen, was uns umgibt, nichts wußte, war ich da nicht mehr, als jetzt, nach all’ den Mühen des Herzens und all’ dem Sinnen und Ringen?

„Ja! ein göttlich Wesen ist das Kind, so lange es nicht in die Chamäleonsfarbe der Menschen getaucht ist.

„Es ist ganz, was es ist, und darum ist es so schön.

„Der Zwang des Gesetzes und des Schicksales betastet es nicht; im Kind ist Freiheit allein.

„In ihm ist Frieden; es ist noch mit sich selber nicht zerfallen. Reichthum ist in ihm; es kennt sein Herz, die Dürftigkeit des Lebens nicht. Es ist unsterblich, denn es weiß vom Tode nichts.

„Aber das können die Menschen nicht leiden. Das Göttliche muß werden, wie ihrer einer, muß erfahren, daß sie auch da sind, und eh’ es die Natur aus seinem Paradiese treibt, so schmeicheln und schleppen die Menschen es heraus, auf das Feld des Fluches, daß es, wie sie, im Schweiße des Angesichts sich abarbeite.“

Während er liest, leuchtet der göttliche Strahl der Poesie um seine hohe, weiße Stirn wie Sonnenschein über einer Winterlandschaft. – Wir glauben einen großen Dichter zu hören, einen gottbegeisterten Sänger. Mit einem Male läßt er aber seine Stimme sinken, sein Gesicht verzerrt sich zu einem widerwärtigen Lachen.

„O schön, schön, Ew. Majestät!“ ruft der Unglückliche, indem er das Buch fallen läßt. Wir heben es auf und lesen den Titel: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Jener Wahnsinnige, der uns wieder dumpf brütend anstarrt, ist der Verfasser dieses wunderbaren Werkes, ist der Dichter Hölderlin.

Ueber dreißig Jahre verharrte er in diesem bedauerungswürdigen Zustande. Welche Verhältnisse und Schicksale diesen edlen Geist zerrüttet, diesen Genius wie ein Frostreif in seiner Blüthenpracht getroffen, bleibt ein psychologisches Räthsel, das trotz mancher Andeutungen und Anhaltepunkte aus seinem Leben noch immer nicht gelöst ist. – Hölderlin war einer der bedeutendsten Dichter, welche Deutschland besessen, ein eben so eigenthümliches als hervorragendes Talent; aber das Geschick verstattete ihm nicht, den ihm gebührenden Platz einzunehmen. Mitten in seiner Entwickelung traf ihn das grausige Loos des Wahnsinnes wie der Blitzstrahl, welcher nicht das niedere Gestrüpp, sondern nur die stolze, königliche Eiche schlägt.

Er war wie Schiller, mit dem er eine gewisse Verwandtschaft zeigt, in dem an Dichtern und Denkern so reichen Schwaben am 29. März 1770 geboren. Frühzeitig verlor er seinen Vater, so daß die Mutter fast allein die Erziehung des begabten Knaben leitete. Der vorzugsweise weibliche Einfluß in seiner Jugendzeit entwickelte zwar den Sinn für alles Gute und Schöne, aber auch eine gewisse Schüchternheit, ideale Schwärmerei, eine überwiegende Empfindlichkeit und leichte Verletzbarkeit im Zusammenstoße mit der rauhen Wirklichkeit. Die schöne Natur, in der Hölderlin fortwährend lebte, unterstützte seinen Hang zur Zurückgezogenheit; er liebte selbst als Kind nicht die lärmenden Spiele seiner Altersgenossen, denen er die einsamen Wanderungen in der herrlichen Umgebung vorzog.

Diese Neigung hielt ihn jedoch nicht ab, mit Fleiß seine Studien zu verfolgen; er besuchte die lateinische Schule in Nürtingen, wo seine Mutter wohnte. Unter den Zöglingen dieser Anstalt befand sich mit Hölderlin zugleich der später so berühmt gewordene Naturphilosoph Schelling. Beide Knaben wurden bald miteinander bekannt und befreundet, gleiche Liebe zu den Wissenschaften und Bewunderung für das classische Alterthum verband sie auf das Innigste. Von Nürtingen kam Hölderlin wohl vorbereitet auf das Seminar nach Maulbronn. Hier entwickelte sich bereits sein poetisches Talent; er galt bei seinen Lehrern für einen talentvollen Schüler, der „auch schöne deutsche Verse mache.“ Besonders aber fühlte er sich schon damals von den Dichtern Griechenlands angezogen und seine Vorliebe für Hellas und die Vergangenheit einer schöneren Zeit erfüllte ihn mit einer Sehnsucht, welche sich später zu krankhafter Schwärmerei steigern sollte. Auch die Liebe, diese stete Begleiterin der Poesie, näherte sich ihm in Gestalt einer jugendlichen Beamtentochter, mit welcher der siebzehnjährige Hölderlin bald in den Kreuzgängen des Klosters, bald in den benachbarten Baumgärten oder in den frischen, von schönen Seen durchzogenen Wäldern in der Umgebung verstohlen zusammenkam. Ihre Gespräche beschränkten sich meist auf poetische Eindrücke und Empfindungen, wie aus den noch vorhandenen Briefen hervorgeht. So schildert Hölderlin einmal seiner Louise, so hieß das Mädchen, mit besonderer Rührung den tiefen Eindruck, welchen das Gebet des greisen, der Klosterschule würdig vorstehenden Prälaten während eines furchtbaren Gewitters auf ihn gemacht, und sie wiederum beneidet ihn in ihrer Antwort um diesen frommen Genuß.

Dieses an sich unschuldige Verhältniß mag allerdings dazu beigetragen haben, seine ohnehin lebendige Phantasie noch mehr zu

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