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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Leichtsinn, Unwissenheit, Gewohnheit und Beispiel anrichten. Das häusliche Glück wird eine Chimäre, die Familie ein förmlicher Höflichkeitscirkel, das Haus ein Kriegsschauplatz, auf welchem Mißtrauen das Scepter führt, Eifersucht die Kammerzofe spielt, Intriguen die Schauspieler sind und Parteien in Worten und Thaten um die Oberherrschaft oder den Vortheil ringen. Die Kleinen werden nicht berücksichtigt, man meint, die verständen das noch nicht. Aber sie reifen schnell und ergreifen Partei.

Der Ungemüthlichkeit eines solchen Lebens sucht sich Jeder möglichst auf seine Weise zu entziehen, und sich in anderer Umgebung zu entschädigen. Jetzt erziehe nur, Vater! – Du triffst vielleicht vernünftige, weise Anordnungen, aber Deine Macht reicht nicht aus, ihnen immer Folge zu verschaffen. Eine feindliche Macht steht Dir entgegen in dem Einflusse der Mutter, tief eingesenkt in das Herz Deiner Kinder. Deine Consequenz wird Härte, welche sie in ihrer Weise wieder gut macht. Deine Strafen werden Barbarei, welche Dir Aerger, Kämpfe, Sorgen bereitet und Dir die Herzen der Deinen, wenn möglich, noch mehr entfremdet. Deine Ermahnungen werden unleidliche, übertriebene Sermone, welchen Keiner Werth beimißt. Deine wohlmeinenden Maßregeln werden gemißdeutet. Dein strafender Blick verschafft ihnen einen zärtlichen Kuß der Mutter, Dein Scheltwort ein Geschenk an Naschwerk, Dein Versuch, zu züchtigen, führt eine thätliche Auflehnung gegen Dein Recht herbei, als willkommnen, schlau benutzten Port gegen den Sturm Deines Zorns; die vollzogene Züchtigung eine Fluth von Thränen und Anklagen, und Du darfst sicher darauf rechnen, daß man sich so oder anders gegen Dich wappnet. Höre auf, Unglücklicher, wenn es Dir nicht gelingt, Deine Gattin, die Mutter Deiner Kinder zu versöhnen, und sie mit Liebe und Ernst zur Vernunft zu bringen! Wenn es Dir irgend Deine Lage erlaubt, thue Deine Kinder weit, weit von Dir! Es ist ein großes Opfer, sie in fremden Händen zu wissen, des Vaters und der Mutter beraubt, allein in der Ferne erhält sich sicher ihre kindliche Liebe ungetrübter, als in solchem Hause, und sie finden an fremden Leuten bessere Eltern wieder, als sie daheim zurücklassen.

Ebenso wenig wird die Mutter in ihrer Erziehung ausrichten, wenn der Vater ihr hindernd in den Weg tritt. – Sie wünscht sehnlich, sich mit ihm zu verständigen, allein er hat dafür weder Herz noch Sinn. Der Unverstand verwirft ihre Bitte mit rohem Spott. – Sie strebt nach Sittlichkeit, nach Anstand, Bescheidenheit und Ordnung in Worten und Benehmen, da stürzt oft eine leichtsinnig scherzende oder spottende Bemerkung des Vaters das mühsam Aufgerichtete schonungslos zusammen. Der Vater scheut sich oft nicht, in Gegenwart der Kinder die Erziehung der Mutter scharf zu tadeln, ja, sie auf hunderterlei Weise merken zu lassen, wie wenig er sie achtet. Sie hat mit Worten, welche dem liebenden Mutterherzen heiß entquollen, versucht, den Grund für Wahrheit in ihnen zu befestigen. Der Vater weiß nichts davon. „In der Welt ist nichts als Lüge und Bosheit,“ ruft er in Gegenwart der Kinder, denen die Welt so lange als thunlich ein Paradies bleiben sollte; und da finden die Kinder es sehr natürlich, so mit der lügnerischen Welt fortzulügen, und der Mutter Worte sind in ihren Augen selbst nur – Lüge – mindestens nicht glaubhaft. Wie oft heißt es im Herzen des Kindes – und ich hörte es mehr als einmal auch von Kindeslippen –: „Du Vater oder Mutter taugst selbst nichts! – „Du verstehst das nicht!“ – „Das muß ich besser wissen!“ u. s. f. – Wie oft habe ich schon – und keineswegs allein unter den niedrigsten Volksclassen – sogar Schimpf- oder Spottworte im Munde selbst jüngerer Kinder gefunden und diese traurigen Erscheinungen werden nur dadurch möglich, daß die Eltern oft unabsichtlich und in Unwissenheit gegenseitig ihre Autorität untergraben, und Jeder einzeln zertrümmert, was der Andere gegründet.

Erziehen kann nur derjenige, der in freiem Besitze voller Autorität dem Zöglinge gegenübersteht. Jede Schwachheit, welche der Zögling entdeckt, reizt ihn zu Uebertretungen. Wer wird nun gerade hierin besser von Natur und Verhältnissen unterstützt, als die Eltern? – Vom ersten Augenblicke seines Bewußtseins an muß sich dem Kinde das Gefühl der Abhängigkeit einprägen, – und wie leicht, wie natürlich bildet sich in ihm die Ehrfurcht, die Liebe und Dankbarkeit aus! – O, gewiß bedarf es da starker Mittel, um den Bau auf solchem Grunde zu ruiniren! – Wer deshalb sehen will, der erblicke an den zahlreichen Ruinen mißlungener Erziehungsmühen die Gewalt des häuslichen Unfriedens, den Einfluß widersprechenden Verfahrens von Vater und Mutter, die Nothwendigkeit, daß Eltern den Kindern gegenüber nicht Zwei, sondern nur Eins sind.

Eine Antwort habe ich versprochen auf die Fragen am Anfange dieses Artikels, sie heißt: Der Grund der Ungezogenheit kann in der Uneinigkeit liegen zwischen Vater und Mutter. – Der süße Name „Vater! Mutter!“, der mindestens zu Anfange wohl jedes Elternherz entzückt, ist gewiß ein inhaltschwerer Mahnruf an ernste Pflichten und Sorgen!




Pariser Bilder und Geschichten.

Der Schreiber dieser Skizzen kennt Paris seit dem Jahre 1845; er hat es also bereits unter drei verschiedenen Regierungsformen, unter dem constitutionellen Königthum, unter der Republik und unter dem unumschränkten Empire gesehen. Er wird dem Leser nicht frische Eindrücke geben, wie ein Tourist, der auf vierzehn Tage die Weltstadt besucht, und dann sein Leben lang als eine Autorität über dieses ewig bewegliche Räthsel spricht; aber er – oder vielmehr ich – werde en connaissances de cause, d. i. mit Sachkenntniß sprechen. Verschiedene Schicksale haben mich in die verschiedensten Kreise und Classen der Gesellschaft gebracht; ich habe Alle Stufen vom Faubourg du Temple, dem proletarischsten Arbeiterwinkel, bis in die Faubourg St. Germain, die Heimath der ältesten Aristokratie, herauf und herunter durchgemacht; ich war reich und war arm, ich habe meine Kleider bei Dusautay auf dem Boulevard des Italiens und im Temple fix und fertig gekauft; ich fuhr in Equipagen, die auf dem Kutschenschlage Wappen trugen, und ich ging zu Fuß in zerrissenen Schuhen; ich erfreute mich eines großen Ansehens und ich wurde vergessen; ich schrieb Empfehlungsschreiben, die an Minister gerichtet waren, und ich schrieb für Geld schlechte Manuscripte schlechter Autoren und reicher Blaustrümpfe ab – kurz, ich habe Paris als eine Art von Gil Blas von Santillana kennen gelernt – ich habe es ausgekostet mit seinen Freuden und Leiden, mit seinen unerschöpflichen Süßigkeiten und Bitterkeiten. Ich sage „unerschöpflich“ – das ist das rechte Wort. Wer sich einbildet, Paris bis auf die Neige gekostet zu haben, der kennt Paris nicht, das immer neue, ewig veränderliche, den Proteus der Städte – das von Tag zu Tag größer wird und immer gewaltiger und mehr und mehr unergründlich. Wie sollte es nicht? Es sitzt in der Mitte Frankreichs wie eine gewaltige Spinne und nährt sich von seinem Marke, von seinem Lebenssaft und wird immer dicker. Und alle Eisenbahnen sind nur Spinnenfäden, die alle nach dem einen Mittelpunkte führen und alles Leben dahin leiten. Man nannte sie die Arterien Frankreichs; sie sind nur die Venen, die alles Blut dem Herzen zuleiten.

Paris wird immer mehr Frankreich; Frankreich immer mehr eine Nebensache. Die Hauptstadt ist nicht des Landes wegen da, das Land ist der Hauptstadt wegen da. Es hat nie eine Stadt gegeben, die ihr Reich so sehr absorbirt hätte, wie Paris. Eine solche Stadt zu schaffen, war dem centralisirenden, polizeilichen, mehr, als man glaubt, pedantischen und ordnenden Geist der Franzosen aufbehalten. Zu dem ganzen Frankreich, das dieses Paris in sich verschlingt und zu seinem Fleisch und Blut macht, kommen noch die ungezählten fremden Bestandtheile und Elemente, welche von allen Ländern der Welt, von kalten, warmen und heißen, von gebildeten, halbbarbarischen und barbarischen geliefert werden. Welch ein Hexenkessel! Ist es da ein Wunder, daß Explosionen vorkommen, daß Unberechenbares hervorgeht, daß immer Neues, immer Unbekanntes und Ueberraschendes aus diesem Kessel heraussprudelt? Eine solche Stadt läßt sich nicht im Ganzen und aus der Vogelperspective beschreiben; man kann nur Einzelnes herausgreifen, das von der Umgebung dieses Einzelnen, von seinem Rechts und Links, von seinem Darüber und Darunter einen Begriff gibt. Wie die Schüler Cuvier’s nach einem einzelnen kleinen Knochen sich das

ganze riesige, vorweltliche Thier construirten, so wird sich der kluge

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